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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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Nicht zu fassen, ich würde arbeiten, Geld verdienen und endlich für mich selbst sorgen können. Und irgendwann auch für meine Kinder. Ich musste sofort meinen Vater anrufen, damit er die Neuigkeit dem Anwalt weitergeben könnte. Wenn ich nur erst meine Kinder wiederhätte!
    Mein erster Arbeitstag war Ende April 1992. Ein kühler Tag, aber ich hatte mich in Schale geworfen: Graues Kostüm und hochgeschlossener gestreifter Body darunter, der meinen Hals bedeckte. Mit dickem, schwarzem Kajal umrandete ich meine Augen, meine Haare – immer noch lang, ich hatte mich nicht aufraffen können, sie schneiden zu lassen, schlang ich mit bunten Bändern wie einen Kranz um den Kopf. Wie eine südamerikanische Künstlerin, deren Bild eine meiner Mitbewohnerinnen an die Wand gepinnt hatte. Ein Styling, das nicht unbedingt zum Füttern von alten Leuten passt. Aber ich freute mich und wollte es allen zeigen. Wahrscheinlich war ich die auffälligste Altenpflegerin, die jemals in diesem Heim gearbeitet hat.
    Es war, als hätten sie auf mich gewartet. »Wie heißt du, meine Liebe?«, grüßte eine alte Frau. »Bist du aber schön«, sagte mir ein alter Mann. Ich war aufgeregt. Brötchen mit Käse belegen, Kaffee und Tee in Thermoskannen füllen, alles auf einen Wagen stellen und dann los damit über die mit orangefarbenem Teppichboden ausgelegten Gänge und das Essen in den Zimmern verteilen. Tür auf, Tür zu. Jedem Bewohner das, was er wollte, und wenn ein Opa ein Stück höher sitzen wollte, habe ich ihm ein Kissen untergeschoben, und wenn eine Oma nicht essen wollte, habe ich mein eigenes Pausenbrot geholt, damit wir zusammen essen konnten: einen Bissen für Mama, einen für Papa.
    Während ich das Essen in der Stationsküche zubereitete, fing ich an zu singen. Ein paar Zeilen auf Deutsch nach kleinen orientalischen Melodiefolgen. Ich sang meine Aufgaben: »Butter für Herrn So-und-so! – Salami für Frau So-und-anders! – Ach, die Dame isst nur Pfirsichmarmelade! – Braucht der Herr ein zweites Kopfkissen?« Das belustigte mich selbst, und ich merkte, dass ich mir, sobald ich die deutschen Worte in eine Melodie verpackte, die Aufgaben besser merken konnte. Es dauerte nicht lange, da kannte ich alle Namen auswendig und wusste von allen Heimbewohnern, was sie gern oder nicht gern mochten. Ich wusste auch, ob sie Besuch erwarteten, einen Arzttermin hatten oder zum Sport eingetragen waren. »Frau Mayer muss zur Wassergymnastik, mit den Schultern kreisen, kreisen«, sang ich dann, und »Herr Müller geht zum Zirkeltraining, Arme strecken, über den Balken hüpfen«. Die anderen Mitarbeiter brachen in Lachen aus, wenn sie mich singen hörten. Aber mir machte die Arbeit Spaß und den alten Leuten auch.
    Sie waren wie meine Kinder, um die ich mich kümmern durfte. Die alte Frau, die blind war: Ich weiß nicht, wie sie es machte, doch jedes Mal, wenn ich hereinkam, erkannte sie mich sofort. »Esma, mein Engel?«, fragte sie dann in Richtung Tür. Oma Hedwig, so nannte ich sie, hatte ihre weißen Haare, die ihr bis in den Nacken reichten, immer akkurat wie ein Mann nach hinten frisiert. An den Wänden ihres Zimmers hingen Fotos, gerahmte und ungerahmte, von sich selbst, als sie noch jung war, mit einem langen blonden Pferdeschwanz, neben ihr ein kleiner Mann mit Schnauzbart in Uniform. Fotos von den Kindern, Sohn und Tochter mit Enkelkindern, blasse, unschuldige Gesichter. Oma Hedwig konnte die Fotos nicht sehen, aber immer sprach sie davon.
    Wenn ich mich dann zu ihr setzte, ihr das Essen klein schnitt und den Löffel in die Hand gab, fing sie an zu erzählen. Immer wieder die gleiche Geschichte, trotzdem rührte sie mich. Sie erzählte, wie sie in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs aus dem Osten geflüchtet und in Bremen im Auffanglager gelandet sei. Mit ihren zwei kleinen Kindern, dem Gerd und der Anna, über die polnische Grenze. Das dritte, das jüngste, die Therese, sei auf der Flucht gestorben. Gerade mal ein Dreivierteljahr alt. »An Masern, aber ich hab ihr nicht helfen können.« Sie habe es nicht geschafft, sie zu retten. Das Fieber sei höher und höher gestiegen, sie habe keine Medikamente gehabt, was hätte sie machen sollen? – »Sie konnten doch nichts machen!«, wollte ich die Frau jedes Mal beruhigen. – »Doch, doch ich war doch die Mutter, ich hätte ihr helfen müssen«, weinte sie dann. Nach so vielen Jahren immer noch. Auch mir liefen meistens die Tränen übers Gesicht, vor allem wenn Oma Hedwig dann

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