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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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fortfuhr und von ihrem Mann berichtete, der in Kriegsgefangenschaft gewesen sei. Sie hatte Angst vor seiner Rückkehr, weil sie fürchtete, dass er ihr den Tod der Tochter vorwerfen würde. Als er tatsächlich zurückkam, hat er nicht viel gesagt. Hat kaum mit ihr gesprochen, auch nicht über den Verlust der kleinen Therese. Das hat ihr am meisten wehgetan, ein Leben lang fühlte sie sich schuldig.
    Auch einen alten Mann hatte ich ins Herz geschlossen. Herrn Georg, der immer wieder weglief und den wir dann suchen mussten. Meistens brachte ihn die Polizei zurück. Er war völlig verwirrt und brummelte wie ein Bär, dass er heim wolle, in die Heimat, nannte er es. Ich spielte dann die Zornige, obwohl ich nicht zornig war, und schimpfte: »Wo sind Sie gewesen? Wir haben uns Sorgen gemacht. Sie dürfen nie wieder weglaufen, versprochen?« Dann lachte er mich aus und sagte, er müsse seine Sachen packen, »die See ruft«. Ich mochte diese alten Menschen mit ihren Macken, jeder war anders. Ich strich ihnen über ihre weißen Häupter, wie ich über die Haare meiner Kinder gestrichen hatte. Das lenkte mich von meinen eigenen Sorgen ab. Die Frau, die dauernd nach ihrer Handtasche suchte und uns beschimpfte, wir würden sie beklauen. Und der Mann, der in die Hosen machte. Es war eine Schweinerei, aber ich weiß, dass er es genossen hat, wenn wir ihn sauber machten. Er brauchte diese Zuwendung und kicherte wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hat.
    Eines Tages, ich war auf dem Weg in den Speisesaal, stieß ich beinahe mit einem älteren Herrn mit einem Koffer in der Hand zusammen. Er war in Begleitung der Heimvorsteherin. Als ich aufsah, traute ich meinen Augen nicht: Doktor Wiener. »Was machen Sie denn hier«, rief ich überrascht. Am liebsten hätte ich ihn umarmt, so sehr freute ich mich, ihm so unvermutet zu begegnen. Aber das gehörte sich natürlich nicht. War er wegen mir gekommen? »Hausbesuche«, antwortete der Arzt. »Ich mache Hausbesuche.« – »Hausbesuche?« – »Ja, ich arbeite hier. Genauso wie Sie hier auch arbeiten.« – »Sind wir Kollegen?«, fragte ich und lachte. Es kam mir vor, als gehörte er zu meiner Familie.
    Manchmal musste ich an meine Großmutter denken, die schon lange tot war. In den letzten Jahren ihres Lebens war sie immer unterwegs gewesen. Ist rastlos von einem ihrer Kinder zum nächsten gereist und immer ein oder zwei Monate geblieben und dann wieder weitergefahren. Meine Familie war zwei- oder dreimal pro Jahr an der Reihe. Dass wir dann alles für sie taten, war selbstverständlich. Wir verwöhnten sie. Denn sie war nicht nur unser Gast, sondern unsere Königin. Wir halfen ihr, sich anzuziehen, das war eine Sache der Ehre. Wir Enkel haben ihr Kaffee gekocht, ihre Taschen geschleppt und ihr die Füße gewaschen. Altersheime gibt es kaum in Tunesien. Wenn meine Kinder erwachsen sein werden, werde ich von einem zum anderen reisen und mich verwöhnen lassen.

    Ich saß in der Pizzeria gleich neben dem Altenheim. Als einziger Gast, wie schon ein paar Mal nachmittags nach meinem Dienst. Ich saß an dem langen Tisch zwischen Fenster und Heizung und ordnete gedankenverloren die Blumen in der Vase. Der junge Mann mit dem dunklen Pferdeschwanz im Nacken hatte mir wie immer die Karte gebracht und gefragt, ob ich schon wisse, was ich trinken wolle. »Das Übliche«, hatte ich gesagt, und er hatte gegrinst. Lange Haare bei Männern mag ich nicht, aber nett war er trotzdem. Als ich nach der Speisekarte greifen wollte, zog er sie zurück. Er neckte mich, das tat mir gut heute. Ich hatte lange mit Oma Hedwig über die Kinder gesprochen und war deprimiert. »Na, gib schon her«, sagte ich ernst, »ich habe Hunger.« Dann nahm ich die Karte und tat so, als würde ich sie lesen.
    Es war Herbst, und wenige Wochen vorher war ich für ein paar Tage in Tunesien gewesen. In meinem Sorgerechtsprozess hatte sich nichts getan, aber auch gar nichts. Seit über einem Jahr war ich ohne Nachricht von meinen Kindern, nicht einmal ein Besuchsrecht hatte ich bisher erwirkt. Trotzdem bin ich zum Hof von Abdullahs Bruder gefahren. Habe geklopft und gerufen: Amin, Jasin, Amal, wo seid ihr, eure Mama ist da! So lange, bis ich nicht mehr konnte. Von weitem sah ich Amal auf dem Gelände, sie trug ihren Arm im Gips. Mein Kind verletzt, ohne dass ich helfen konnte – das brachte mich wieder an den Rand der Verzweiflung. Ich schrie und schrie mich heiser und hörte doch nichts als das Bellen der Hunde.
    Als ich beim

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