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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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hatte. Sogar eingeschult worden war ich hier. Es ist im Frühjahr, die Schule ein zweigeschossiges Gebäude mit großen Fenstern. Davor blüht der Ginster. »Asmahan, Asmahan«, wiederholt der Lehrer meinen vollständigen Namen, als wir Kinder ihm vorgestellt werden. »Asmahan ist eine bekannte syrische Sängerin. Weißt du das? Bist du nach ihr benannt?« Ich schüttle den Kopf, das habe ich nicht gewusst. »Kannst du uns auch ein Lied von Liebe und Leid singen?«, fragt der Lehrer weiter. Schüchtern wie ich bin, erschrecke ich. Ich will nicht singen, ich weiß nicht einmal, was das ist: Liebe? Leid? »Ein Lied«, bohrt der Lehrer weiter, »oder sing uns ein Lied von den Haremsfrauen.« Ich kenne ein paar Lieder, die Schwester meiner Mutter sang uns Kindern manchmal orientalische Lieder vor. Aber in dem Moment, als der Lehrer danach fragt, fällt mir kein Lied ein, nichts. Anstatt zu singen, fange ich an zu weinen. »Dummes Ding«, höre ich den Lehrer sagen, dann beachtet er mich nicht mehr.
    Als Abdullah nach zwei Stunden aus der Botschaft kam, war er guter Laune. So hatte ich ihn noch nicht erlebt. »Alors, zum Hafen«, rief er. »Auf nach Goulette. Hast du den Hafen schon mal gesehen?« – »Weiß nicht«, entgegnete ich. Ich war nicht darauf gefasst, von ihm angesprochen zu werden. Meine Gedanken kreisten um die Einschulung und meinen Namen. Davon hätte ich ihm gerne erzählt. Dass ich den Namen einer Sängerin trage, dass der Lehrer in der Schule mich nicht mochte und dass ich nicht das erste Mal in Tunis war, weil mein Vater hier bei der Polizei gearbeitet hatte. Aber ich konnte nicht. Gerade hatte ich noch daran gedacht, nun brachte ich keinen Ton über die Lippen.
    Am Hafen war ich noch nie gewesen. Solch riesige Schiffe hatte ich nie gesehen. »Siehst du das große weiße dort? Eine Fähre, damit fahren wir nach Italien«, rief mein Mann, während er nach rechts und links schaute und langsam durch die Hafeneinfahrt fuhr. »Warum Italien und nicht Deutschland?«, murmelte ich. Aber er verstand mich nicht, so laut war es hier. Frachtschiffe dröhnten und wurden beladen, Lastwagen rumpelten aus großen Schiffsbäuchen über Eisenbrücken. Es sah aus, als wollte ganz Tunesien umziehen, nicht nur wir. »Lass mich nicht allein«, sagte ich meinem Mann. »Mach dir nicht in die Hose!«, sagte er, während er das Auto abstellte. Er fingerte aus dem Handschuhfach seine schwarze Tasche und sprang hinaus, um uns einen Platz zu reservieren. Ich wäre gern mitgekommen, aber da war er schon weg.
    Was für ein Gestank! Teer, Tang, Schmutz, Abgase, Benzin. Es wehte ein leichter Wind, es roch nach Fisch und Verwesung. Die Möwen kreischten, und die Frachtkräne quietschten erbärmlich. Ich machte die Beifahrertür auf und streckte meine Beine aus. Eines nach dem andern. Es tat gut, raus aus dem heißen Ofen zu kommen, auch wenn die Hitze des Asphalts durch meine dünnen Sandalen brannte. Mir war schwindlig, der Boden bewegte sich wie das Wasser vor der Kaimauer.
    Mächtig und weiß lag das Schiff, das uns mitnehmen würde, ein Riesenfisch auf graugrünem Wasser – bereit für alle Menschen und Autos dieses Landes. Ein Hai, dachte ich, der uns alle verschlucken wird. Er wird uns mit in die Tiefe reißen und quer durch die Erdkugel hindurch auf die andere Seite der Welt schwimmen. Und uns dort wieder ausspucken – wenn wir Glück haben. Aber ich will nicht verschluckt werden, ich will überhaupt nicht weg aus Tunesien.
    Ich ließ meine Arme hängen, mit leeren Händen stand ich da, und es liefen mir schon wieder die Tränen übers Gesicht. Nichts hatte ich als die Trauer, die ich mitnehmen konnte. Nun gab es kein Zurück mehr. Von weitem winkte mein Mann mit den Papieren, so als wolle er gleich abheben. »Setz dich, es geht los«, schrie er. Am Rande des Parkplatzes hatte ein Eisverkäufer seinen Stand aufgebaut und laut röhrende Musik aufgedreht. Ich hätte gerne ein Eis gehabt, aber jetzt ließ Abdullah sich nicht mehr aufhalten, und ich hatte nicht den Mut, etwas zu sagen. Hinter und vor uns und neben uns ein Riesenknäuel von Lastwagen und Autos, die nur eines wollten: rein in dieses grässliche Schiffsmaul. Ein Durcheinander, egal in welche Richtung ich schaute, nur Müll, Gestank, Geschrei und Autos. Die reflektierenden Sonnenstrahlen verwandelten die glänzenden Blechkisten in Lichterketten. Alle drängelten und fluchten. Schweißgeruch hing in der Luft. Ein paar fliegende Händler, ich weiß nicht, wie sie es
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