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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Gesellschaft, lernte mit Rikord Latein. Das Absurde dieser Beschäftigung war ihm willkommen, denn dabei sammelte er sich, statt sich zu verzetteln. Obwohl man auch für das Nötigste den größten Aufwand treiben mußte: in der elenden Hafensiedlung hatte er
immer
das Gefühl, seine Zeit zu verlieren, am meisten mit dem Versuch einer Verbesserung der Verhältnisse. Nadeschda versah seinen Haushalt in der Admiralität, dem
andern
Steinhaus von Petropawlowsk. Als die Japanesen einzogen, hatte sie sich ihrer angenommen und seine Stelle vertreten, wenn er auf Reisen war. Anfangs hatte sie Rudakow, den Stellvertreter, schroff in die Schranken weisen müssen, seine Avancen gegen sie selbst, seine Hartherzigkeit gegen die Japanesen. So war es zwischen ihr und Rikord zu einem Einverständnis gekommen wie zwischen Bruder und Schwester. Sie hatte nie einen Bruder gehabt.
    Als Nadeschda ihm eine Kanne Tee an den Arbeitstisch brachte, sagte er, ohne aufzublicken: Wenn Sie drüben einmal vorbeisähen, Nadeschda, ob noch jemand lebt.
    Sie schlüpfte in Stiefel und Pelzmantel; es schneite nicht mehr, aber das Tageslicht schien für immer erloschen, und wie tot lag auch die Admiralität, nur die Ofenhitze darin war zum Schneiden dick. Kinzo und Heizo lagen auf ihren Matten, ohne sich zu rühren, Kahei saß gegen die Wand gedreht. Als sie seinen Ärmel berührte, schüttelte er kaum merklich den Kopf. Olinka kauerte beim Ofen, in den er ab und zu eine Schaufel Kohle warf; die Fenster hielten nicht jeden Luftzug ab. Gott sei Dank, dachte Nadeschda, wären sie dicht, müßten die Bewohner ersticken. Wie kann es für die Kranken gut gewesen sein, daß der Arzt ihnen frische Luft verbot! Er nannte die Krankheit Skorbut; sie macht die Glieder gefühllos wie Holz und schwächt das Herz, bis es seinen Dienst versagt. Die Japanesen waren aber nicht am Mangel an Nahrung gestorben, sondern an Hoffnung.
    Auf der Wärmplatte des Ofens stand eine Pfanne Borschtsch; Olinka begann erst zu löffeln, als sie auch für sich eine Schüssel geschöpft hatte. Dann setzte sie sich an den Tisch mit der Fransendecke; dieser Salon war einmal festlich gewesen. Jetzt kroch das Dunkel aus allen Winkeln und niemand hatte die Kerzen vor den Ikonen angezündet. Sie putzte das Tischlicht und nahm ein offenes Buch zur Hand, die russische Ausgabe der «Verlobten» von Manzoni; Rikords Braut hatte sie aus Petersburg geschickt. Nadeschda las erst gedankenlos, dann nahm die Lektüre sie gefangen. Am Ofen war Olinka eingeschlafen; sie zog ihm sachte den Löffel aus der Hand und machte ihn so weit munter, daß er sich auf eigenen Füßen in seine Kammer schleppte;
tragen
konnte sie ihn nicht mehr. Er schlief schon wieder, als sie ihm das Nachthemd überstreifte; er hatte ihr die Arme um den Hals gelegt und seufzte:
jiisama,
Großvater; er hatte nur noch Kahei. Der aber schien allmählich mit der Wand zu verwachsen.
    Sie sank über den Tisch, und als der Schlag der Pendule sie weckte, wiesen die Zeiger auf zwölf; die Fenster waren dunkel. Es war Mitternacht geworden, und wo blieb Rikord?
    Auch das Haus des Gouverneurs lag lichtlos wie ein Findling im stumpfen Weiß. Sie trat vor die Tür, in beißende Kälte. War er zu den Mannschaftsbaracken gegangen? Oder zur
Diana
? Oft wanderte er allein am Strand der Awatscha-Bucht; aber im tiefen Schnee? Sie sah Werkstätten und Lagerhäuser unter der weißen Last, auf der ein Schimmer von Sternenlicht lag. Der Himmel hatte sich aufgetan, Stille läutete in den Ohren, und die Weite der Bucht lag schwärzer als jede Nacht.
    Rikord hatte erschöpft ausgesehen. Die Kneipe besuchte er nicht, sie hatte auch längst geschlossen. Vielleicht war er im Büro eingeschlafen, doch wenn er ins Freie gegangen war und sich irgendwo hingesetzt hatte, konnte er erfrieren. Sie ging zurück, um Pelzmantel, Kappe und Stiefel anzuziehen; als sie zum zweiten Mal die Tür öffnen wollte, fiel sie ihr entgegen, und ein Mensch hinterher.
    Es war Rikord, und seine Bewegungen, auch sein Atem verrieten:er war schwer betrunken. So dankte Gott, daß er noch seine Haustür gefunden hatte. Sie mußte alle Kraft zusammennehmen, um ihn zu stützen und mit seinem Gewicht um die Richtung in sein Schlafzimmer zu kämpfen; zum Glück war es ebenerdig. Lag er erst auf dem Bett, so würde er auch liegenbleiben. Fast hatte sie ihn so weit, als er die Arme gegen die Wand stemmte und sie mit glasigen Augen ansah. Ludmilla! lallte er und umschlang sie heftig. – Ich bin

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