Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
Correspondents’ Club
von Greens umgebautem Pferdestall. Mit dem Blatt aus Petersburg schleicht sich der Wahnsinn der Geschichte in die Stille der Gryllenburg zurück.
    Ich sehe eine Welt grober Vermutungen, dummer Bilder, schlecht ausgemalt; plumper Wiederholungen. Golownin segelt über Südwest nach Fernost, diesmal wird er, wie Krusenstern, die ganze Welt umsegeln, nicht nur die halbe. Die
Kamtschatka
ist kein umgebauter Lastkahn wie die
Diana
; diesmal kehrt er nicht mehr um am Kap Hoorn. Er hat vor, wie ich lese, die Westküste Südamerikas hinaufzufahren, in Callao vor Anker zu gehen, Lima, die Hauptstadt des spanischen Vizekönigreichs zu besuchen, in der es nie regnet. Da proviantiert er sich für die direkte Fahrt nach Kamtschatka; danach aber geht es wieder ostwärts, den Alëuten entlang zum Besuch der russischen Niederlassungen in Nordamerika, bis hinunter nach Kalifornien, auf Resanows Spuren. Und wenn er von da nach Hawaii gelangt, wird er nicht nur Japan weiträumig umfahren haben, sondern auch den südlichen Inselgruppen und den Paradiesen des Lasters ausgewichen sein. Der Rest ist schon Rückkehr, auf bereits geschäftigen Handelsrouten nach China, Indien und um das Kap der Guten Hoffnung in den Atlantik zurück. Das Bündnis der Heiligen Allianz in Europa begrenzt das Risiko unerwarteter Zwischenfälle auch im Rest der Welt. Napoleon, der sie unsicher gemacht hat, sitzt in St. Helena gebannt, dessen Vulkantürme man schaudernd, doch gefahrlos passieren kann, wenn man sich nicht als Befreier verdächtig macht. Die
Kamtschatka
wird nicht scheitern wie die
Diana
: Der Weg um die ganze Welt zeichnet zugleich die Karriere ihres Kommandanten vor, seinen Aufstieg zum Verantwortlichen der russischen Marine. Der Zar wird ihn noch gnädiger empfangen, als er ihn verabschiedet hat; er wird, lese ich, die Erfüllung des Auftrags mit einer Hochzeit krönen. Und ohne Zweifel wird er auch seine letzte große Fahrt mit einem Bericht dokumentieren und danach, gesucht und hochgeehrt, nie mehr selbst zu fahren brauchen.
    Was geht mich das an, Exzellenz? Haben Sie noch etwas damit zu tun? Wozu wollten Sie mich verwenden?
    Diese Frage habe ich Ihnen schon als junger Mensch gestellt, und damals haben Sie geruht, sie mit meiner Einteilung zur Krusensternschen Expedition zu beantworten. Sie sollte mich nach Japanführen, zugunsten meines Gulliver-Projekts, als werdenden Schriftsteller in der Verkleidung eines vierten Offiziers an Bord der
Nadeschda
, des Schiffs mit dem Namen Hoffnung. Über den Ausgang dieses Unternehmens habe ich Ihnen Rechenschaft abgelegt und zu erklären versucht, woran es gescheitert ist – der kürzeste Name dafür lautet «Resanow». In ihm kommt alles zusammen, was Rußland verfehlt hat – nicht nur in Japan. Ich selbst habe das Land so gut wie gar nicht betreten; nur wenn es Resanows Laune gestattete, durfte ich mich zu seinem Rattenkäfig hinüberrudern lassen, um mich über seine lasterhafte Inkompetenz zu ärgern und die Zeit mit Schabernack totzuschlagen. Etwa, indem Horner und ich kleine Heißluftballone über die Palisaden steigen ließen – die erschrockenen Japanesen fürchteten, wir wollten Nagasaki abbrennen.
    Mein Gulliver-Projekt haben Sie endgültig beerdigt, als Sie für die nächste große Fahrt den Riesen Golownin engagierten und dafür sorgten, daß ich nicht mitkam – oder
nicht
dafür sorgten, daß ich mitkam. Ohne Goethes Gefälligkeit wäre mir vielleicht sogar der Bericht von seiner Gefangenschaft entgangen. Oder glauben Sie, ich hätte in Archangel etwas über Japan gelesen? Ich hätte sogar das Ende des Vaterlandes erst aus der englischen Presse erfahren – das ist Rußland! Seine rohe Hand macht Taten von selbst zu Untaten oder Unfällen. Wie dürfte man solchen Händen ein Kunstwerk wie Japan überlassen!
    Nachdem ich
nicht
in Japan war, hat mich die Regierung dafür auch noch büßen lassen. An Archangel, die Station kalten Wahnsinns, erinnere ich mich nur zu gut. Und was kam danach? Manchmal flimmert mir etwas vor den Augen; Sonnenblumenfelder vielleicht, das Schwarze Meer: Schnee auf keinen Fall. Eine südliche Gegend, immer schwül, immer schmutzig; diesmal war der Wahnsinn grell und laut, roch nach Wermut, Wacholder, Räucherwerk, Kampfer, Chloroform. Lag ich ohne Bewußtsein im Lazarett, war ich schon in der Leichenhalle aufgebahrt? Hat man mich in die Zwangsjacke gesteckt, ans Bett gefesselt? Manchmal tun mir alle Knöchel weh, auch heute noch.

Weitere Kostenlose Bücher