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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Phantomschmerz oder Folterspuren?
    Erst auf der Gryllenburg bin ich wieder zu mir gekommen, wer ich gewesen sein könnte, ist stückweise wieder in meine Erinnerung gedrungen, an vielen Stellen überdeutlich. Einmal erschien mir im Traum eine türkische Fregatte mit russischer Flagge; eine Prise. Ich war es nicht, der sie aufgebracht hatte, und doch war sie
mein
Schiff, das neu aufgetakelt immer noch einen türkischen Namen trug:
Magubei.
Ich konnte froh sein, daß der schwimmende Schrott nie ins Treffen kam, er schleppte sich nur von einer Quarantäne zur nächsten. Wohin wir auch kamen, wir hatten nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Sollte ich dieses verlorene Kapitel meines Lebens nur geträumt haben? Gleichzeitig stieß Napoleon seinen Degen in den russischen Riesenleib und zog ihn durch dieselbe Öffnung wieder hinaus, dabei bröckelte der Stahl der
Grande Armée
wie faules Holz, und der Matador, der nur noch den Griff in der Hand behielt, lief um sein Leben. Wäre Rußland ein Stier gewesen, er hätte ihn ins Herz getroffen, aber es ist ein überlebensgroßer Mollusk mit allen möglichen Nervenzentren und zahllosen Gliedern. Das unsere hat den Stich kaum gespürt, und die Agonie, in der wir den Boden scharrten, war nur die übliche, der eingesessene Dauerzustand der russischen Katastrophe. Ich war eine der Maden, die aus diesem Kadaver krochen, und übergebe mich schon beim Gedanken daran. Bin ich an meinem Erbrochenen erstickt? Wie lange bin ich tot gewesen? Oder habe ich mich in Ekel aufgelöst, ganz und gar?
    Die Gryllenburg kommt mir wie ein Laboratorium vor, in dem ein unfertiger Mensch zu einem Werkzeug umgemodelt werden soll, dessen Zweck er besser nicht errät. Ich will nicht undankbar sein: Sie haben mich neu erschaffen und sogar meine Rippen geschont, als Sie mir eine Gefährtin erweckten. Auch mein Herz wollten Sie aus dem Spiel lassen, denn Sie haben das Steuer meinem Leibdiener anvertraut, einem von Haus aus schlichten Gemüt.
    Aber nun ist Löwenstern an eine Frau geraten, die ihm durchaus nicht als Werkzeug dienen will. Ihr Eigensinn ist beträchtlich; phantasielose und sittenstrenge Zeitgenossen würden sie geisteskrank nennen. Angenommen – nur angenommen! – sie hätte an meinerWenigkeit einen bestimmten Auftrag zu erfüllen gehabt, mit der Pflicht, ihn zu verschweigen; angenommen, es wäre
Ihr
Auftrag – haben Sie nie damit gerechnet, daß sie ihn sowenig erfüllt wie meine Erwartungen, wenn man sich nicht auf die gröbsten beschränkt? Haben Sie einkalkuliert, daß sie Ihnen aus dem Ruder läuft? Wären Sie Gott und ich Abraham, würden Sie mein Liebstes als Opfer fordern und meine Hand dazu verwenden, es darzubringen, so müßte ich sagen: Dein Wille geschehe. Aber da ich Löwenstern bin, und solange ich es bin, lautet die Antwort: muß ich töten lernen, kommt dafür nur einer in Betracht:
Sie
.
    Eben hat mir eine unbekannte Person das Essen gebracht, eine spanische Dame mit weißem Spitzenhäubchen, roter Mantilla und langem schwarzen Zigeunerrock, unter dem Schnallenstiefelchen hervorlugten.
    Bon appétit!
    Erst an der Stimme erkannte ich Nadeschda, dann auch an den Augen mit der fast weißen Iris. Die Lippen hatte der Schminkstift zum Kußmund verzogen.
    Warum tragen Sie das?
    Meine Rolle verlangt es. Sie sollten auch wieder etwas Ordentliches tragen. Wie wär’s mit Ihrer Uniform, Herr Kapitänleutnant? Draußen hängt sie bereit.
    In die passe ich nicht mehr, sagte ich, und
mir
paßt sie nicht. Nie wieder! – Und als sie unter der Tür war, rief ich sie beim Namen.
    Ja? fragte sie über die Schulter.
    Nadja!
wiederholte ich.
    Soll ich Ihnen einen runterholen? oder einen blasen? fragte sie, schüttelte sich und stakte hinaus.
    Darauf blieb ich lange vor meinem Garten sitzen und betrachtete seine Verwüstung mit Grausen, als hätte ich sie nicht selbst angerichtet. Aber nun gab es nichts mehr zu reparieren.
    Als ich zurückkam, hatte sich Yoshi ins Garderobenkabinett zurückgezogen. Er drückte sich zwischen meine Offiziersuniform und das spanische Kostüm, das ich an Nadeshda gesehen hatte;darunter die Schnürstiefelchen mit der Silberschnalle. Auch unter der Uniform stand plötzlich ein Paar gewichste, fast kniehohe Stiefel mit Sporen. Die hohle Versammlung wirkte wie Sendboten aus einer andern Welt.
    Unterläßt man jede Bewegung, die an Fortpflanzung unserer Art erinnert, treten am Körper fast sogleich Merkmale des Verfalls hervor. Meine Finger wirken gichtig, die Haut der

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