Loewenstern
Allianz, die den allgemeinen Verfall zu steuern versprach.
Selbstverständlich war der Palfer benachbarte Adel herbeigeeilt, um dem Zaren aufzuwarten; die Gesellschaft wurde ihm, der den Arm in der Schlinge trug, ohne Förmlichkeit vorgestellt. Nach dem stehenden Umtrunk, der, wie der Gastgeber scherzte, aus grönländischem Sauerwein bestand, ließ man sich an der Tafel nieder, die sich nicht gerade unter Speisen bog; um so mehr genoß man die Würze des Tischgesprächs. Der Zar erklärte, als Großfürst sei er selbst noch Jakobiner gewesen und habe durch bittere Erfahrung lernen müssen, daß die Freiheit wohl für den Menschen, der Mensch aber nicht für die Freiheit geschaffen sei. Die einzige, deren Gebrauch ihn kleide und hebe, sei diejenige zum Dienst an Gott und den Menschen.
Der Berner Stadtchirurg pflichtete bei, was die Menschen betraf; über Gott rede er nicht mit. Er durfte sich, als Schweizer, gegen den Zaren Freiheiten herausnehmen, die durch seine ärztliche Kompetenz – und, obwohl diskreter, durch quasi-familiäre Nähe – gedeckt waren. Schiferli war eine Koryphäe des menschlichen Unterleibs im allgemeinen und der männlichen Organe im besonderen, und der Zar bedurfte seines Rats. Es war ein offenes Geheimnis, daß die beiden Töchter, welche die Zarin geboren und zu früh verloren hatte, aus ihrer Verbindung mit dem Außenminister Czartoryski hervorgegangen waren, dem der Zar sein unverändertes Vertrauen bewahrte, obwohl er Pole war. Seine Majestät hatte ihrerseits Trost bei einer polnischen Favoritin gefunden und mit ihr auchmännliche Nachkommen zu zeugen vermocht. Und obwohl er den größten Wert auf zarte Verhältnisse legte und auf gütliches Einvernehmen aller an seinem Wohl beteiligten Damen, sah er doch ein, daß dessen physische Grundlage einer gewissen Robustheit bedurfte, und war in Sorge, er möchte derselben ermangeln.
Schiferli konnte ihn beruhigen, Seine Majestät dürfe sich nur nicht verdrießen lassen, von einer bestimmten mechanischen Nachhilfe Gebrauch zu machen, auf die Schiferli ein Patent besaß und die er Seiner Majestät unter vier Augen demonstrierte. Auch in seiner Person stellte der hochgewachsene, unverwüstlich wirkende Arzt gewissermaßen eine leibhafte Empfehlung für seine Kunst dar. Denn als Oberhofmeister der Großfürstin Anna Federowna auf ihrem Asyl Elfenau bei Bern war er auch der Vater gemeinsamer Kinder geworden, nachdem sie sich vom Großfürsten Konstantin, Alexanders jüngerem Bruder, getrennt hatte. Damit eine formelle Scheidung stattfinden konnte, galt es, beim Hof zu Petersburg eine schickliche Apanage auszuwirken, und ihr
Chevalier d’Honneur
zeigte sich bei ökonomischen Verhandlungen nicht weniger tüchtig denn als Chirurg. Der Quasi-Schwager des Zaren brachte aber auch ein politisches Gewicht auf die Waage, denn Konstantins Verhältnisse hatten ihre dynastische Delikatesse. Heiratete dieser nämlich seine polnische Favoritin, so schloß er sich zugleich von der Nachfolge seines Bruders aus – woran ihm ebensoviel gelegen schien wie an der Legitimation seiner Liebe. Jetzt verstand Schiferli meisterhaft, die Chirurgenhand für seine verlassene Großfürstin hinzuhalten, wenn sich ihr Mann die Freiheit etwas kosten ließ, König der Polen zu bleiben, statt Zar aller Reußen zu werden.
Alexander beneidete ihn, denn auch er hätte seine fortgeschrittenen Jahre nur zu gern als Philosoph in einem ländlichen Asyl zugebracht, etwa am Genfer See in der Nähe seines verehrten Lehrers César La Harpe. Er hatte sich beim Wiener Kongreß nicht umsonst für die immerwährende Neutralität des Musterlands altehrwürdiger Freiheit eingesetzt und sie gegen die Ränke Metternichs verteidigt. Darum hörte er sich bei Tische mit süßbitterer Miene den Einspruch des pragmatischen Arztes an, der auch alsStadtpolitiker tätig war und dem Zaren leider sagen mußte: nicht einmal im Lande Tells sei alles Gold, was glänze; und vieles, was auf Glanz verzichte, könnte eher etwas zu verstecken haben als achtbare Gründe.
Da der Zar nur einer Hand mächtig war, hatte er sich die Speisen vorschneiden lassen, was beim zähen Hirsch etwelche Mühe bereitete. Aber da er dem Burgunder um so lebhafter zusprach, zeigte er fliegende Röte in seinem verdrossen-jugendlichen Gesicht, als er rief: Wem kann das Regiment ärgerlicher sein als mir! Doch ich unterwerfe mich, denn auch ich habe keine Freiheit als den Dienst und werde wohl auf Gottes Wink warten müssen, mich von
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