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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Löwenstern behielt die Ruhe eines Standbilds, doch man hatte schon aufgehört, ihn zu beachten, und plauderte angeregt und ratlos.
    Hobōrin
, sagte die Japanesin. –
Ikoruzu.
Plötzlich richtete sie sich, immer noch kniend, auf und blickte streng geradeaus. Jetzt waren ihre Augen weit geöffnet und strahlend blau. Die Lippen entblößten pechschwarze Zähne, die Lippenschminke hatte sich zumdoppelten Blutstropfen gespalten. Wie gebannt sah die Gesellschaft zu, wie die Hände der Frau nach hinten griffen, langsam die Schleife des breiten Stoffgürtels lösten und ihn ebenso bedächtig von ihrem Leib wanden. Dann faltete sie ihn wieder zu einem kompakten Paket zusammen und legte es hinter sich. Jetzt streifte sie – diesmal behende – den blauen Kimono ab, wobei der dunkelrote wie von selbst nachfiel, und hielt beides, ohne sich umzublicken, über sich empor: Der Gefährte in Uniform nahm es und drückte das Bündel, wie es war, gegen seine Brust. Die Frau saß jetzt hoch aufgerichtet in einem schneeweißen Unterkleid, das nur von einem Band zusammengehalten wurde. Ohne hinzusehen, löste sie auch dieses auf, und es öffnete sich wie ein Vorhang über ihrem elfenbeinfarbenen Leib, nur die Brüste ließ es bedeckt. Nun saß sie straff aufgerichtet, schloß die Augen und schien in tiefes Nachdenken zu versinken.
    Aber das nächste ereignete sich sehr schnell. Ihre Rechte hatte in die Tasche unter dem linken Ärmel gegriffen, einen Augenblick, und schon zu spät, sah man auch den Stahl in ihrer Hand, denn gleich darauf hatte sie sich die Klinge schon mit beiden Händen in den linken Unterleib gestoßen und zerrte den Griff waagrecht geradewegs nach der rechten Seite. Um dem Druck nachzuhelfen, schien sich der Leib der schneidenden Klinge geradezu entgegenzuwerfen – es war vollbracht. Die Frau nahm die Fäuste unter dem Bauch hervor, ihre Finger wischten die Klinge am weißen Kleid ab und legten sie zitternd vor sich auf den Teppich. Einen Augenblick verharrte sie mit gesenktem Kopf. Dann aber richtete sie sich auf, die Augen zuckten, aber sie waren wieder weit offen, und auf dem gestrafften Leib trat der Schnitt hervor wie eine saubere Naht, aus der einzelne Blutstropfen traten.
    Jetzt erst entlud sich das Entsetzen in einem einzigen Schrei, der in fassungslose Rufe, verwirrte Bewegung überging. Kitty war in Ohnmacht gefallen, andere Damen sprangen auf, hielten sich an Herren fest, vergruben ihre Köpfe an deren Schultern und schluchzten laut; auch der fluchende Schiferli vermochte sich von einer haltsuchenden Unbekannten nicht loszureißen. Der Zar war auf seinenPlatz auf dem Sofa zurückgefallen und saß wie tot. Die deutschen Ärzte stürzten für Erste Hilfe herbei, aber bevor sie die Verletzte anfassen konnten, die jetzt vornübergesunken war, gebot eine klare Stimme: Halt.
    Es war Adelbert von Chamisso.
    Er ging mit großem Schritt zu der Japanesin, kniete nieder und hielt seine offenen Hände über ihren schwarzen, mit vielen Nadeln bewehrten Kopf. Dann hob er den Blick zu Löwenstern. Aber er fand seine Augen nicht. Der hatte sein Gesicht in das Bündel kostbaren Stoffs begraben, das er mit beiden Armen an sich zog. Seine übrige Haltung blieb ungebeugt, wie diejenige eines Offiziers, der unter schwerem Feuer nicht mehr an Deckung denkt.
    Chamisso aber hatte, über die Japanesin gebeugt, zu singen angefangen, und in ungläubiger, doch zunehmender Stille begann man, die Worte zu verstehen.
    Seit ich ihn gesehen/Glaub ich blind zu sein/Wo ich hin nur blicke/Seh ich ihn allein/Wie im wachen Traume/Schwebt sein Bild mir vor/Taucht aus tiefstem Dunkel/Heller nur empor
.
    Und siehe: bei den letzten Worten hatte sich die Japanesin langsam wieder aufgerichtet; jetzt aber blieben ihre Augen geschlossen, und ihre Lider wirkten verklärt. Da fuhr Chamisso zu singen fort, mit leiser, doch fester Stimme:
    Es blicket die Verlaßne vor sich hin/Die Welt ist leer/Geliebet hab ich und gelebt, ich bin/Nicht lebend mehr/Ich zieh mich in mein Innres still zurück/Der Schleier fällt/Da hab ich dich und mein verlornes Glück/Du meine Welt.
    Die Frau war gegen Chamisso gesunken, und nach den Worten
Du meine Welt
wurde man Zeuge, wie er sie umfing und, ohne Worte weitersummend, scheinbar mühelos aufhob. Als er sich selbst aufgerichtet hatte, konnte man glauben, er wolle sie mit ganzem Leib abschirmen, doch die Zuschauer, wie gebannt, meinten auch zu sehen, wie sie zu schwinden, dann, bei fortdauerndem Singsang, immer mehr

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