Loewenstern
Anfang ist in jedem Augenblick; und in jedem, oder nie, ist Anfang. Der Anfang ist eine tiefe See, und auf ihr schwimmt das Wort, das aus der Tiefe kommt. Darin muß es gegründet sein, aber zugleich leichter sein als sie, federleicht. Selbst die Oberfläche, auf der es schwimmt, darf es kaum berühren, als
schwebte
es nur darauf.
Wie oft bin ich schon im Anfang untergegangen! und doch nicht genug. Wer die Seefahrt gelernt hat, weiß noch nicht, was Tauchen heißt. Und wer noch so tief tauchen kann, muß seinen Schatz auch noch dahin retten, wo er sich erst als solcher zeigt: an die Oberfläche.
Wie oft bin ich nur an die Oberfläche zurückgekehrt, um Luft zu schnappen! Der Kopf wollte mir bersten von allem, was ich auf dem Seegrund ausgemacht hatte, als erster und einziger. Aber ging mir der Atem aus, mußte ich mit leeren Händen hinauf – und wußte schon, ich würde die Stelle nie wiederfinden. Beim nächsten Versuch stößt die Hand nur noch auf Schlick, den sie nicht aufrühren darf, wenn nicht jede Aussicht weiter schwinden soll – und am Ende gar die Vorstellung, wo unten und oben ist. Man kann bei diesem Tauchgang das Bewußtsein verlieren, Exzellenz, es kommt auch vor, daß man sich vom schönsten Anfang wieder
abstoßen
muß, um nur das nackte Leben zu retten.
Kürzlich stieß mein Griff in einiger Tiefe auf ein Frauengesicht, das mir bekannt vorkam, und beim Weitertasten fühlte ich einenFaltenwurf, den Abdruck einer weiblichen Brust, doch bevor ich die andere fand, mußte ich loslassen. Danach konnte ich tauchen, sooft ich wollte, die Figur blieb unerreichbar – erst ein Tagtraum zeigte sie mir ganz.
Ich sah den Torso einer Frau, der einem Wrack entwuchs; es war auf dem Seeboden gestrandet, ein pelzbesetztes Gerippe. Die Galionsfigur allein hatte dem Fraß der Tiefe widerstanden, aber um sie mit dem Wrack zusammen zu heben, hätte es der Kraft eines Gottes bedurft. Doch plötzlich las ich in meinen leeren Händen den
Namen
der Figur:
Diana!
Und jetzt sahen sie die Augen meiner Seele im vollen Licht. Da zog sie mit geschwellten Segeln auf große Fahrt, nach Japan, Kapitän Golownins Schiff.
Ich muß auf dieses Schiff. Lassen Sie mich fahren, Exzellenz.
Ich möchte die Geige wieder hören, aus dem Dunkel des Papenbergs. Es ist jetzt fünf Jahre her, und wie ich den Unbekannten kenne, ist er zum Meister gereift, auch für mich, den Mann mit dem Glockenzeichen.
Als die
Nadeschda
vor Nagasaki lag, habe ich mich mit der japanesischen Sprache beschäftigt, ein
Tolk
hat mir holländische Wörterbücher mitgebracht und meine Kenntnisse berichtigt. Ich wollte nach Irkutsk, um in Laxmanns Akademie weiterzulernen, bei Koichi, dem Invaliden, dem ich vor der Isaakskathedrale begegnet bin. Und dann wollte ich den Zaren um eine Gnade bitten. Ich wünschte, diesmal als Passagier, auf ein russisches Schiff gesetzt zu werden, das nach Kamtschatka segelt. Bei ruhiger See und in passender Entfernung sollte mich der Kapitän vor der Ise-Provinz aussetzen, Koichis Heimat, die er nie wiedersieht. Aber er würde mir Briefe mitgeben, und ich wollte mich nach seinem Dorf durchzufragen. Löwenstern, der erste schiffbrüchige Russe in Japan! Natürlich würde man versuchen, mich zu den Holländern abzuschieben, damit sie meine Rückkehr in die Wege leiteten. Aber inzwischen hätten mich Koichis Eltern aufgenommen wie einen Sohn. Mein Weg wäre weitergegangen, Schritt für Schritt. Wohin, hätte ich erst erfahren, wenn ich ihn gegangen wäre. Er würde mich heilen, von jedem weiteren Wunsch.
Ich träume wieder sehr lebhaft.
Ich bin in einem unbekannten Hafen gestrandet, weiß nur, daß er am Ende der Welt liegt, und zwar auf einer Insel; er ist belebt wie London oder Amsterdam, zugleich ganz unübersichtlich, ein einziger Hafen, aber nur eines der zahllosen Schiffe ist für mich, denn es segelt nach Japan. Seinen Namen habe ich vergessen, seine Nationalität, seinen Liegeplatz, den Tag seiner Abfahrt. Doch diese Angaben, all meine Papiere und Pässe sind im Koffer eingeschlossen, den ich immer bei mir trage und wie meinen Augapfel hüten muß. Sicher ist: ich habe noch einen Tag Zeit; zuwenig, um mich in einem Gasthaus einzumieten – in dem der Koffer nicht sicher wäre –, aber auch zuviel, um dauernd auf ihm sitzen zu bleiben; ich muß ja auch essen. Drei Dinge darf ich auf keinen Fall verlieren: einen Mantelsack mit Kleidern für Japan, einen Säbel aus meiner Zeit bei der Marine und vor allem den Koffer, Isabelles
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