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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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werden durften:
Fremde
. Auf dem Prüfstand war nur für Leute wie Teisuke die
andere
Zivilisation. Umauch den gemeinen Mann, die einfache Frau zu interessieren, mußten die Russen zuerst
für sich
etwas wert sein. Und waren sie dann noch Gefangene?
    Als Golownin seinen Fluchtversuch machte – und erst recht, als er gescheitert war –, hat ihm Moor Undank vorgehalten; er habe das Verständnis der Japanesen nicht verdient, ihre Gnade verwirkt. Golownin aber erwartete weder Gnade noch Verständnis. Wenn von Rußland keine Rettung kam, mußten sich die Gefangenen selbst helfen. Es war nicht ganz unmöglich, irgendwo an der Küste Ezos ein unbewachtes Fischerboot zu kapern und darauf siebenhundert stürmische Seemeilen zurückzulegen, zur nächsten rettenden Küste; sie war von Tataren bewohnt, und solche hatte Golownin schon als Kind kennengelernt. Aber auch wenn es unmöglich war: es wollte versucht sein. Lieber den Tod auf See, dem vertrauten Element, als in der japanesischen Versenkung verschwinden. Als die Ausbrecher wieder gefangen waren, fürchteten sie das Schlimmste. In Rußland wäre es nicht möglich gewesen, seine Wächter durch Flucht zu
entwaffnen
. In Japan hatte sich Golownin zum letzten Mal in den Japanesen getäuscht – diesmal zu seinen Gunsten. Er hatte sie gewonnen; sie fanden: an seiner Stelle hätten sie, aus Liebe zum Vaterland, handeln müssen wie er. Damit hatte er Chwostow richtiggestellt, die rücksichtslose Untat beantwortet mit einer Tat ohne Rücksicht auf sich selbst.
    Golownin und Moor waren dazu verurteilt, noch eine Weile zusammen zu kutschieren, doch ihre Wege blieben getrennt, und ihre Gefangenschaft war nicht mehr dieselbe. Nadja ist die Enkelin des Ausbrecherkönigs Benjowski; muß ich fragen, auf welche Seite sie gehört?
    Mich sieht sie auf der andern.
    Und wo sehe ich mich selbst?
    2 Mein Globus zeigt den einzigen bekannten Himmelskörper, auf dem Leben gedeiht; den einzigen, den seine Bewohner verändern können.
    Ich sehe ihn, wie man ihn (ohne französische Beschriftung) aus dem benachbarten Weltraum sehen muß, fasse die Insel Ezo in den Blick, einen verzogenen Rhombus, der den Kopf des japanesischen Drachen bildet. In Golownins Bericht heißt er «Matsumai», nach der Residenz am Ende ihres südwestlichsten Zipfels. Dort saßen die Gefangenen, eher gastlich gehalten, im Außenbezirk der Gouverneursresidenz. Ihr Fluchtweg führte erst über die Palisaden, dann durch einen Tempelfriedhof in die Wälder; vor sich hatten sie drei Wochen Marsch durch unwegsamstes Gebirge, und dies – was Golownin selbst betraf – mit einem schon beim ersten Schritt schwer lädierten Fuß.
    Auf meinem Globus wäre die zurückgelegte Strecke ein fast mikroskopisches Rißchen im Lack.
    Doch wenn ein Globus erfunden würde, der kein summarisches Bild der Erdoberfläche lieferte, sondern ein durch Annäherung ins Reale auflösbares Konzentrat, in das man aus dem Weltraum hineinstürzen und zusehen könnte, wie die Erde das Blickfeld füllt und zum Greifen vergrößert;
    dann möchte ich falkengleich in die Schlucht einfallen, in der Golownin mit seinem Fuß nicht mehr weiterkommt, und mich genau über der Stelle fangen, wo er gleich abstürzen muß;
    denn schon reißen die Wurzeln des Bäumchens, an das er sich klammert, schon beginnt das Felsband, auf dem sein gesunder Fuß Halt gesucht hat, zu weichen;
    und wie sollte der Matrose Makarow über ihm, der mit letzter Kraft festen Boden gewonnen hat, gerade in diesem Augenblick aus seiner Ohnmacht erwachen, um die Hand seines Kapitäns zu ergreifen;
    wie sollte er ihn gerade noch über die Kante ziehen können, bevor ihn selbst, den Retter, das Bewußtsein wieder verläßt –
    Es ist nicht möglich. Aber gerade so erzählt es Golownin.
    Noch einmal mit genauer Not gerettet, heftet er sich mit Klauenund Zähnen an ein Stück Erde, das nur so lange fest bleiben möge, bis Makarow, der treue Riese, sich wieder gefangen hat. Nun kann sich der Kapitän an den Gürtel des Matrosen klammern wie ein Kind an die Hose des Vaters, um weitergeschleppt zu werden, auf den nächsten Berg, durch die nächste Schlucht.
    Längst hat er die Gefährten beschworen, ihn zurück- und seinem Schicksal zu überlassen. Aber in der Not sind sie auch Christen. Wenn der Kapitän nicht mehr das Größte sein kann, wird er zum Nächsten. Den lassen sie nicht im Stich, und selbst wenn Gott ihnen verziehe: sich selbst täten sie es nicht.
    Natürlich lassen sie sich nicht

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