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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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träumen, daß überall, wo sie eine Spur hinterlassen, die Verfolger einen Pflock eingeschlagen haben: die Wegmarke einer übermenschlichen Anstrengung. Sie ist absurd, sie weckt Respekt.
    Ich aber müßte, um
wirklich
dabeizusein, einen Globus haben, der sich nicht auf die
Abbildung
der Erde beschränkt. Da verschwindet, bei immer größerer Annäherung, das Objekt des Interesses immer mehr. Und die größte Nähe, im Mikroskop, könnte nur noch die Pigmente und Lacktupfer zeigen, aus denen das
Bild
einer Welt zusammengesetzt ist. Die
Wahrnehmung
hätte die Wirklichkeit übersprungen, und die Sache, bei der es
ums Ganze geht
(wie bei jedem Schritt Golownins mit seinem kranken Fuß), hätte sich im Bild aufgelöst wie Salz im Meer.
    Für Herrn von K., meinen Pariser Bekannten, hat ebendies den Weltuntergang bedeutet. Sein Landsmann Kant, der kategorische Philosoph, hatte das Auseinandertreten von Ding und Vorstellung für endgültig erklärt, für unüberwindlicher als jede Schlucht. Wenn K. die Welt aber nie sehen konnte, wie sie
ist
, wollte er gar nichts mehr sehen. Lieber sterben.
    Golownin aber und Chlebnikow, Makarow, Simanow, Wassiljew und Schkajow sind nicht gestorben. Sie hatten nie ein Bild ihrer Lage, oder ein falsches. Und doch haben sie sich immer weiter durchs Dickicht des Wirklichen gekämpft, ohne jedes Hilfsmittel als eine Nähnadel, die Chlebnikow magnetisiert hatte, so daß sie sich als Kompaß verwenden ließ. Was sie taten, war aussichtslos,aber sie haben es getan. Und damit haben sie sich den Japanesen als berechtigte Männer gezeigt, zum ersten Mal.
    Ich ging ins Freie. Hier lehnte ich mich neben der Hütte an einen Baum und dachte über unser Schicksal nach. Das majestätische Bild der Natur erregte meine ganze Aufmerksamkeit. Der Himmel war klar, aber unter uns, zwischen den Bergen, wogte schwarzes Gewölk. Wahrscheinlich regnete es in den Ebenen. Der Schnee von allen Bergen ringsum schimmerte in der Ferne, und nie hatte ich früher bemerkt, daß die Sterne so leuchteten wie in dieser Nacht. Allein dieses erhabene Schauspiel schwand, wenn meine Gedanken plötzlich auf unsere Lage fielen. Sechs Menschen auf einem der höchsten Gipfel der matsumaischen Gebirge, ohne Kleidung, ohne Nahrung, sogar ohne Waffen, mit deren Hilfe man doch irgend etwas hätte erzielen können, von Feinden und wilden Tieren umringt, ohne sich verteidigen zu können, auf einer Insel herumirrend, ohne die Gewißheit und Kraft zu haben, sich eines Fahrzeugs zu bemächtigen, ich überdies mit einem kranken Bein, das mich bei jedem Schritt furchtbar quälte.
    Endlich erlösen die Verfolger sie von dieser Flucht und ziehen das Netz, in dem sie sich, um ihrer Freiheit willen, fast schon zu Tode gezappelt hatten, respektvoll zusammen.
    Doch peinliche Verhöre bleiben ihnen nicht erspart, und Moor, als Dableiber salviert, darf zuhören, richtigstellen, mäkeln. Warum sind sie geflohen? Die Japanesen wollen die
Wahrheit
, aber die hat Golownin doch längst gesagt. Er hat auch schon die alleinige Verantwortung übernommen – so war es verabredet, als die Flucht zu Ende war. Doch Moor erinnert sich an etwas ganz anderes. Hat Golownin nicht selbst erklärt, in der Gefangenschaft ende sein Kommando und jede Stimme gelte gleich viel? Aber dies ist kein europäisches Gericht. Es interessiert sich nicht für klare Verhältnisse, die es noch nie und nirgends gegeben hat. Es will saubere Menschen. Warum müssen diese Russen ihre Handlungsweise erklären, rechtfertigen, begründen? Die Frage ist einfach: war sie
richtig
oder
falsch
? Warum erwarten die Ausbrecher immer noch, daß ihre Fluchtgründe
gewürdigt
werden; können sie dies nicht den Japanesen überlassen? Als ob diese nichts von Würde verstünden und sich die Gründe nicht selber denken könnten!
    Was die Russen nie begreifen: für die Japanesen war die Flucht zwar ein Muster ehrenhaften Verhaltens, aber brauchte sie auch hinterher noch
richtig
zu sein? Deckte der gemeinsame Rückblick nicht einen Mangel an Vertrauen auf; erklärte der glückliche Ausgang die Flucht nicht zum Beziehungsdelikt, das die Wächter nicht verdient hatten? War für die Umstände, die man ihnen bereitet hatte, keine
Entschuldigung
fällig? Mußte immer noch gemarktet sein? Golownin verweigert die Scham; damit zwingt er die Japanesen, sich an seiner Stelle zu schämen, herzhaft widerwillig. Denn alles, außer dieser Scham, könnte er jetzt geschenkt haben; selbst die Freiheit, für die er zu sterben

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