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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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hatte er sich nicht empfohlen.
    Haben Sie die Zeichnung noch? fragte ich.
    Nadja blieb die Antwort schuldig und setzte ihre Papiermahlzeit fort. – Zwei Jahre später hätte ich ihn nicht wiedererkannt. Die
Diana
hatte die befreiten Landsleute an Bord, alle waren des Gottes voll, die Gefangenschaft gab zu reden ohne Ende – über Moor kein Wort. – Dort sitzt er, in der Ecke, sagte Rikord. – Da sah ich einen großen mageren Menschen in kurilischer Bauerntracht, das Haar zurückgekämmt und zum Pferdeschwanz gebunden, das Gesicht bärtig und ausgehöhlt, wie das einer Ikone, aber die Augenwaren durchdringend blau – erst an ihnen erkannte ich Moor. – Kümmern Sie sich ein wenig um ihn, sagte Rikord, er wohnt bei uns. Er hat ein wenig den Verstand verloren, aber er ist harmlos.
    Er lebte im Haus des Gouverneurs, habe ich gelesen, in der Pflege seiner jungen Frau.
    Rikord wurde Gouverneur, und die junge Frau war ich, sagte sie, und ich war auch noch schwanger.
    Aber nicht von Moor, sagte ich.
    Sie lachte schnöde.
    Er konnte sich niemals angesteckt haben, denn er
konnte
gar nicht, der Muttersohn. Jetzt schwieg er nur noch, er mied die Gesellschaft, obwohl ihm Golownin goldene Brücken baute. Erst wenn ich mit ihm allein war, redete er unaufhörlich, ohne zuzuhören, und seine Augen hatten das Leuchten eines gestörten Oberlehrers. Wenn er allein war, redete er japanesisch – mit den Wänden seines Zimmers, er durfte es nicht verlassen, zu seinem eigenen Schutz. Aber er hatte sich rasiert und begann auch wieder zu essen. Er brauche Kraft und gute Haltung, sagte Rikord, sonst könne er ihm nicht erlauben, sich in Kamtschatka auf dem Dorf anzusiedeln – das war angeblich sein einziger Wunsch. Auch dort brauche es Vorbilder, sagte Rikord, und für ihn bleibe Moor ein russischer Offizier. Er zeichnete nicht mehr. Jetzt wollte er auf die Jagd, aber Rikord gab ihm keine Waffe in die Hand, wir wußten alle, was das bedeutet hätte. Mit mir sprach er ganz offen darüber. – Wenn ich ein russischer Offizier bin, gibt es für mich nur noch das eine. – Mit mir durfte er nächtelang kämpfen, um seine Ehre, seine Philosophie, um Japan und Rußland, aber auch um sein Leben – das schien er zu genießen. Solange er darüber redet, tut er es nicht, dachte ich. – Nehmen Sie sich doch eine einfache gute Frau, Fedja, sagte ich, beginnen Sie ein neues Leben. – Alles kommt von den Frauen, sagte er, das geht immer so weiter, und Sie beteiligen sich daran. Warum haben Sie sich ein Kind machen lassen? Tut es Ihnen nicht jetzt schon leid? Ich pflanze mich nicht fort. Ich würde mich schämen, meinen Schwanz in eine Frau hineinzustecken.
    Ich hatte ihn gehütet wie einen Bruder, aber da sagte ich:
Go to hell
.
    Sie taten ihn zum Popen, sagte ich.
    Als er wiederkam, benahm er sich, als wäre er ein neuer Mensch, und jetzt wollte er endlich auf seine Jagd und bat Rikord um ein Gewehr. Als der zögerte, lachte er: glauben Sie, wenn ich wünschte, mich umzubringen, ich könnte es nicht zu Hause mit einem Messer oder einer Gabel tun?
    Reden Sie nicht nur davon, tun Sie’s, haben Sie ihm gesagt.
    Als ich ihm die Waffe gab, war ich sicher, daß er zuerst
mich
erschoß, sagte sie und starrte vor sich hin. – Aber ich sollte ja seine Abschiedsbriefe noch lesen. Dieser Eitelkeit verdanke ich vielleicht mein Leben.
    Sie führte noch einmal das Glas an die Lippen, aber es war leer.
    Ich möchte das Bild sehen, das er von Ihnen gezeichnet hat.
    Es ist das einzige, das es von mir gibt.
    Es muß schön sein, sagte ich.
    So schön, wie ich einmal gern gewesen wäre, antwortete sie. – Ich behalte es für mich. – Sie hatte fast keine Stimme mehr, als sie fragte: Wollen Sie jetzt noch mit mir zu tun haben?
    Ja, sagte ich.
    Sie atmete, nach Kinderart, hoch auf, aber ihr Schalk war durchsichtig auf eine bodenlose Traurigkeit.
    Ich gebe Ihnen seinen Brief an die Mutter, sagte sie. – Ich habe ihn von ihr selbst. Sie hat ihn ein dutzendmal abgeschrieben und an seine Freunde versandt, an alle, die sie dafür hielt. Ich habe ihn nicht geöffnet. Darf ich ihn hierlassen? Aber dann nichts mehr davon – verstecken Sie ihn.
    Wie sollte ich ihn vor Ihnen wohl verstecken?
    Tun Sie ihn in Ihren Kopf, sagte sie. – Da kann ich nicht hineinsehn. Aber von Moor will ich nichts mehr wissen, nie wieder.
    Liebste, verehrte Mutter,
    wenn Sie diesen Brief in der Hand halten, ist Ihr Sohn nicht mehr, und er wüßte, außer Ihnen, keinen Menschen, dem er dafür

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