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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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bis heute schütter und dünn geblieben. Meine Mutter versäumte keine Gelegenheit, mir zu sagen, wie hässlich ich sei. Als müsse sie das irgendwie ausgleichen, war sie entschlossen, ihre Privatausbildung zum Abschluss zu bringen, und übertrug mir mehr und mehr die Verantwortung für den gesamten Haushalt. Wenn ich für die Schule lernte, bestrafte sie mich dafür. Und so gab ich schließlich auf. Es war ohnehin alles umsonst. Ich war so verzweifelt und erschöpft, dass ich schließlich nicht einmal mehr den sogenannten „Qualifizierenden Hauptschulabschluss“ schaffte, der mir die Chance auf eine weiterführende Schule eröffnet hätte. Meine Eltern waren sehr zufrieden.
    Als ich vierzehn Jahre alt war, zogen wir endlich aus dem hässlichen kleinen Schwedenhäuschen aus: Meine Eltern hatten ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus in derselben Straße ein paar Häuser weiter gekauft, das mein Vater aufwendig von oben bis unten sanierte und zu unserem Familienhaus umbaute. Es hatte dreizehn Zimmer, und so erhielt nun jeder von uns sein eigenes Reich, und als mein älterer Bruder ein paar Jahre später heiratete, zog er mit seiner Frau ins Erdgeschoss. Zu unserem neuen Haus gehörte ein riesiger Garten, den wir bald in ein blühendes Paradies verwandelten. Dieses schöne Haus samt Garten wurde, je älter ich wurde, zu meinem Gefängnis.
    In diesen Jahren, in denen ich zur Frau heranwuchs, nahm mir meine Mutter nach und nach und nahezu unmerklich jede |32| noch so kleine Freiheit. In ihren Augen war ich nicht mehr länger ein kleines Mädchen, sondern kam in ein gefährliches Alter, in dem ich in diesem freizügigen Land, von dem meine Mutter nach all den Jahren, die sie hier lebte, noch immer keine genaue Vorstellung hatte, vielen Gefahren ausgesetzt war. Und so wurde aus meiner strengen Mutter eine hysterische Wächterin meiner Jungfräulichkeit. Ihrer Meinung nach war das nämlich alles, was ich zu bieten hatte: meine intakte Unschuld. Denn was war ich anderes als ein chronisch krankes, von meinen vielen Leiden gezeichnetes, hässliches Mädchen mit wirren Ideen im Kopf und einem fatalen Hang zur westlichen Kultur? Meine Mutter hatte nicht verhindern können, dass ich im Krankenhaus die deutsche Sprache so perfekt lernte, wie jedes andere deutsche Kind auch. Und wenn das auch immer wieder praktisch war, wenn man etwas mit den Ämtern zu regeln hatte, so wäre es ihrer Meinung nach doch besser gewesen, wenn ich genauso abgeschottet gelebt hätte wie sie selbst. Dass ich das von nun an tat, dafür sorgte sie. Sie sperrte mich regelrecht ein.
    Ich durfte mich nur noch von Haus und Garten entfernen, wenn sie mir etwas auftrug. Mit Argusaugen überwachte sie mein Kommen und Gehen. Brauchte ich einmal fünf Minuten länger für eine Besorgung, dann schlug sie mich. Mehr noch als die Schläge aber traf mich ihr Geschrei: „Hast du wieder um die Ecke gefickt, du Hure! Wo hast du dich herumgetrieben?“
    Luden mich meine alten Freunde zu Geburtstagsfeiern ein, erlaubte sie mir selbstverständlich nicht hinzugehen. Ich durfte weder ins Kino noch mit einer Freundin ein Eis essen gehen, und die Innenstadt von Nürnberg sah ich genau zwei Mal im Jahr, wenn meine Mutter mit mir die notwendige Kleidung einkaufen ging. Wollte ich auch nur einen Schritt aus dem Garten heraus tun, musste ich Rechenschaft ablegen. Auch ein einfacher Spaziergang in den nahegelegenen Park war unmöglich. „Willst dich dort womöglich mit einem Mann treffen, du Flittchen“, war der einzige Kommentar meiner Mutter. Ich war zu ihrer Gefangenen geworden.

    |33| Nach der Schule besorgte mir mein Vater eine Lehrstelle in einem Friseursalon. Ich hasste diese Arbeit, Friseurin war das Letzte, was ich werden wollte. Wenigstens bot mir diese Arbeit die Gelegenheit, der Fuchtel meiner Mutter zu entkommen. Die Arbeit war ein Weg aus meinem Gefängnis heraus, doch wehe, ich kam nur wenige Minuten zu spät nach Hause. Einmal schlug mich sogar mein Vater, der zuvor niemals die Hand gegen uns erhoben hatte. Mit einem einzigen brutalen Fausthieb streckte er mich nieder, ich dachte allen Ernstes, meine letzte Stunde hätte geschlagen, so hart traf mich sein Schlag. Meine Mutter hatte ihn gegen mich aufgehetzt, weil ich ihrer Meinung nach zu spät nach Hause gekommen war. Er schlug mich nur dieses eine Mal, und ich glaubte zu spüren, wie sehr er sich hinterher schämte. Denn seiner Meinung nach schlug ein echter Mann keine Frauen, auch nicht seine Ehefrau oder seine

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