Loewinnenherz
Tochter. In diesen Jahren wuchs in mir die Überzeugung, dass meine Mutter mich hasste, denn sie behandelte mich wie den allerletzten Dreck.
Schon damals war es für mich unfassbar, welche Fantasien meine Mutter entwickelte; dass sie ihrer eigenen Tochter tatsächlich zutraute, sie gehe mal eben einkaufen und habe in dieser Zeit Sex mit irgendeinem Mann! Der Gedanke, meine Jungfräulichkeit zu bewachen, wurde für sie zur fixen Idee. Von einer wenig liebevollen Mutter wurde sie zu einer Art Terrorbeauftragten zur Wahrung meines Hymens. Sie untersagte mir alles, was ihrer Meinung nach auch nur im Entferntesten dazu führen könnte, dass ich meine Jungfräulichkeit verlieren würde. Dazu gehörten auch so sinnlose Verbote wie Sport zu treiben, ganz egal welcher Art, und Kaffee zu trinken. Mein ganzes Leben und mein einziger Lebenszweck bestanden in ihren Augen darin, Jungfrau zu bleiben. Sie überwachte mich wie ein Satellit, nicht den kleinsten Raum für ein eigenes Leben ließ sie mir. Dauernd fing sie Streit mit mir an, schlug und beschimpfte mich. Das Schlimmste aber war, dass meine Mutter mit ihrem hysterischen Benehmen ihre eigene Angst auch auf mich übertrug. So befiel mich zum Beispiel die Sorge, ich könnte schon von Geburt an |34| keine Jungfrau gewesen sein, oder dass da irgendetwas schiefgelaufen war, vielleicht bei einer meiner vielen Operationen. Sogar Bücher besorgte ich mir zum Thema Jungfräulichkeit, in denen geschrieben stand, dass da allerhand passieren könne. Und so kam es, dass ich die Angst, ich könnte auch ohne mein Verschulden keine Jungfrau mehr sein, unterschwellig immer mit mir herumtrug. Ich war sicher, dass der vorzeitige Verlust meiner Jungfräulichkeit mein Todesurteil bedeuten würde: Denn nach der Hochzeitsnacht wird allen Verwandten das blutige Leintuch gezeigt, zum Beweis, dass die Braut vor ihrer Hochzeit noch unberührt war. Wenn das nicht möglich ist, überlebt die Braut diese Nacht häufig nicht.
Ich wusste in all diesen Jahren, dass ich mich irgendwie befreien sollte, dass ich raus musste, weg von meiner Mutter. Doch gleichzeitig war mir klar, dass es unmöglich war, ihr zu entkommen. In der türkischen Kultur ist die Familie alles. Ohne Familie kannst du nicht existieren. So war ich aufgewachsen, das wurde mir täglich eingetrichtert. Du allein bist nichts wert, wenn dich deine Familie verstößt, dann bist du so gut wie tot. Ich habe miterlebt, wie ein Verwandter versuchte sich gegen seine Mutter zu behaupten, als es um seine Heirat ging. Ich habe ihn heimlich weinen hören, als sie seine eigenen Pläne dennoch durchkreuzte und ihn zwang, seine kleine Cousine aus Anatolien zu heiraten, die ihn bis dahin immer nur „Bruder“ genannt hatte. Und er war schließlich ein Mann. Wie also sollte ich mich gegen meine Mutter auflehnen können?
Zu meiner großen Erleichterung zogen wir, entgegen der Ankündigung meines Vaters, nicht in die Türkei. Ich weiß bis heute nicht, ob er das nur behauptet hatte, um seinen Frieden zu haben, oder ob er wirklich vorgehabt hatte, zurückzukehren.
Und dann, in den Sommerferien, kurz bevor ich sechzehn wurde, erlebte ich in der Heimat meiner Eltern etwas äußerst Aufregendes: Trotz der Observierungen meiner Mutter hatte ich tatsächlich zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie |35| einen Freund. Selbstverständlich musste das alles in größter Heimlichkeit vor sich gehen. Alles begann, als ich gerade die Wäsche auf dem Balkon aufhängte und ein V W-Bus wieder und wieder an unserem Haus vorüberfuhr. Mir war das gar nicht aufgefallen, bis eine meiner jüngeren Cousinen sagte: „Şengül, hast du den gesehen?“
„Nein“, antwortete ich, „wen denn?“
„Na den mit seinem Bus, der fährt jetzt schon zum fünften Mal an unserem Haus vorbei. Ich glaube, dem gefällst du.“
„Erzähl keinen Quatsch, den kenne ich doch überhaupt nicht.“
In diesem Augenblick kam der V W-Bus schon wieder und dieses Mal hielt er an. Der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter und begrüßte uns höflich. Meine Cousinen und ich fanden das alles äußerst spannend, ein Wort gab das andere, und ich erfuhr, dass er normalerweise mit seiner Familie in Kassel lebte, sein Name Yasim war, und er sehr gerne mit mir spazieren gehen würde.
„Das kommt überhaupt nicht infrage“, sagte ich mit gespielter Entrüstung. Doch Gott sei Dank ließ sich Yasim nicht so schnell abschrecken. Er machte mir Komplimente, die mich immens freuten, hatte ich von meiner
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