Loewinnenherz
während der Sommerferien, das Auto vollgepackt bis über den Dachgepäckträger. In der Türkei besuchte |27| man Tanten, Onkel, Cousinen und andere Verwandte, mein Vater baute an dem riesigen Haus weiter, das er ein Jahr vor meiner Geburt begonnen hatte, und wir Kinder langweilten uns zu Tode. Ich war jedes Mal froh, wenn es wieder nach Hause ging. Denn mein Zuhause war Deutschland. In Anatolien würde ich lebendig begraben sein.
„Du bist sowieso mehr tot als lebendig“, sagte ich mir, als die Blasenentzündungen, die pochenden Schmerzen in der Niere, das Brennen beim Wasserlassen wiederkehrten. Wer je ein Nierenleiden hatte, der weiß, wie unerträglich diese Beschwerden sind: Schmerzen an der Niere gehören zu den schlimmsten. Immer wieder staute sich der Urin in meinen Nieren, ich bekam hohes Fieber und musste ins Krankenhaus, wo ich an Infusionen angeschlossen wurde. All das und der ständige Streit mit meiner Mutter zermürbten mich und machten mich müde und schwach. Irgendwann glaubte ich sogar selbst daran, dass es meine Eltern gut mit mir meinten. Ich versuchte mir einzureden, dass es tatsächlich unsinnig sei, für die Schule zu lernen, dass es besser für mich sei, stattdessen immer mehr Aufgaben im Haus zu übernehmen und für meinen Vater die Dolmetscherin bei Anwälten und vor Gericht zu spielen. Durch meine Krankheit versäumte ich viel Unterricht, und nach und nach erlahmte mein Interesse am Lernen. Wenn meine Mutter der Meinung war, dass sie mich im Haushalt brauchte, dann verbot sie mir ohnehin, in die Schule zu gehen.
Ich war zwölf Jahre alt, als mein Vater wieder einmal wegen einer Schlägerei vor Gericht kam. Und wieder war ich es, die kleine Şengül, die zur Verhandlung mitkommen und zwischen meinem Vater und dem Anwalt übersetzen musste. Mein Vater wollte, dass ich seine Worte so authentisch wie möglich seinem Anwalt vortrug, damit der sie dann genauso wiedergeben konnte.
Am Tag der Verhandlung, alle waren schon versammelt, ging die Tür ganz hinten im Gerichtssaal auf und ich hörte das entschlossene Klack-Klack-Klack von Absätzen. Ich konnte spüren, |28| wie sich die Stimmung im Raum schlagartig wandelte. Alle, auch ich, drehten sich nach dem Geräusch um. Und da sah ich sie: Eine wunderschöne, große, stolze Frau in einem grauen Hosenanzug und mit schicker Aktentasche hatte den Raum betreten. Sie strahlte so viel Souveränität aus, so viel Kompetenz, dass es mir den Atem verschlug. Sogar mein Vater schien von ihr beeindruckt. Und als sie zu reden begann – ruhig, sachlich, aber auf eine Art und Weise, dass man ihr nicht zu widersprechen wagte –, da stieß er mich in die Seite und sagte immer wieder: „Hör genau zu, Şengül, so musst du sprechen, so wie diese Frau! Hörst du? So!“
Aber ich war doch nur die kleine, kranke Şengül! Ich war nicht groß, stark und schön wie diese Anwältin, ich war ziemlich genau ihr Gegenteil. Als ich übersetzen musste, was mein Vater sagte, merkte ich, wie meine Stimme immer höher wurde und ich vor Aufregung keine Luft mehr bekam. Wieder stieß mich mein Vater in die Seite, bis ich wütend wurde und dachte, verdammt nochmal, warum lernst du nicht einfach selber Deutsch?!
Doch meine Augen hingen an der Anwältin, an ihren starken, dunklen Augenbrauen, ihren schwarzen Augen, ihren gepflegten Händen. Und noch heute höre ich ihre ruhige, samtene Stimme, die so entschlossen war, so als sei das, was sie sagte, Gesetz. Und für mich war es das auch.
An diesem Tag schalt mich mein Vater auf dem Nachhauseweg. „Hast du nicht diese Frau gesehen? Gehört, wie sie gesprochen hat? Genau so hättest du das machen sollen.“
Im Stillen gab ich ihm in allem recht. Diese Frau war unglaublich gewesen. Dass es so etwas gab! Von nun an hatte ich einen Gegenstand zum Träumen gefunden: Ich wollte sein, wie diese Anwältin. Schön und stark, ruhig und souverän. Wie sie wollte ich mit einem Zucken meiner Augenbraue zu verstehen geben, was richtig ist und was falsch. Ich wollte einen grauen Hosenanzug wie sie und eine schicke Aktentasche. Denn diese Aktentasche war für mich ein Zeichen der Macht. Darin befanden sich mächtige Dokumente. Unterlagen, die über das Schicksal |29| von Menschen entschieden. Papiere, auf denen haufenweise geheimnisvolle Zeichen standen, und Dinge, die in einer Sprache formuliert waren, die ein Normalsterblicher nicht verstehen konnte. Auch ich wollte Räume betreten, in denen sich langsam die Köpfe nach mir umwandten,
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