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Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
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diese verrückten Ideen her?“ Und so geht es weiter. Am liebsten würde ich sie in diesem Moment erschlagen. Stattdessen schäle ich die Kartoffeln, dass die Schalen nur so davonspritzen.
    Das Essen ist fertig, alles ist vorbereitet, jetzt kann ich nur noch warten. Ich sehe auf die Uhr. Es ist drei. Um diese Zeit, hieß es, kommt er nach einer langen Fahrt im Bus am Bahnhof in Nürnberg an. Mir bleiben vielleicht noch zwanzig Minuten. Dann wird das Taxi mit meinem zukünftigen Ehemann vor unserem Haus halten. Ich schalte den Fernseher ein, ohne zu sehen, was läuft.
    Auf einmal entsteht Bewegung im Haus, meine Mutter rennt für ihr Gewicht überraschend behände zur Tür, gefolgt von meiner Schwägerin. Ich weiß, jetzt ist er da.
    Ich schalte den Fernseher aus und gehe ebenfalls zur Tür. So, wie es mir meine Mutter befohlen hat.
    Ich sehe ihn gerade noch aus dem Taxi steigen, etwa zwanzig Meter von mir entfernt. Er ist ein abgemagerter, spirreliger Typ, und als er sich umdreht und zu uns herübersieht, bemerke ich als Erstes seinen merkwürdigen Blick. Er sieht mich an und weiß offenbar sofort, wer ich bin. Dann sieht er meine Mutter, geht auf sie zu und küsst ihr die Hand, so wie es in türkischen |48| Familien üblich ist: die Jüngeren küssen den Älteren die Hand, egal ob Mann oder Frau. Dann begrüßt er Gülay, meine Schwägerin. Schließlich wendet er sich mir zu. Er schaut mir kurz in die Augen und drückt meine Hand. Eine eisige Kälte durchfließt meinen Körper. Nein. In diesen Mann werde ich mich nie verlieben können. Dieser Refik mit dem seltsamen Blick ist ein furchtbarer Mensch. Das weiß ich vom allerersten Augenblick an. In jener kurzen Sekunde, in der er mir das erste Mal in die Augen sieht, ist es, als liefe rasend schnell ein Film in meinem Innern ab. So als könnte ich für den Bruchteil einer Sekunde alles voraussehen, was kommen wird. So schnell, dass ich keine einzelnen Bilder erhaschen kann, und dann ist es auch schon wieder vorbei. Meine Mutter stößt mich in die Seite, zischt mir etwas zu. Nein, denke ich, das kann nicht sein, das bilde ich mir nur ein, und dann habe ich diese kurze Vision auch schon verdrängt. Erst viele Jahre später werde ich mich daran erinnern, dass ich im Grunde vom ersten Augenblick an schon alles wusste, so wie unsere Intuition uns vieles verraten würde, wenn wir nur mehr auf sie achteten. Aber das war damals nicht möglich. Und es hätte mir auch nicht viel genutzt.
    In der großen, gemütlichen Wohnküche meiner Eltern, in der viele Menschen Platz haben auf dem riesigen Sofa und den Stühlen um den Esstisch, sind an diesem Frühlingstag viel zu wenige Leute: nur dieser Eindringling, meine Mutter und ich. Die beiden nehmen auf dem Sofa Platz, ich setze mich auf einen Stuhl weit genug von ihm entfernt, so, dass er mich nicht direkt ansehen kann.
    „Wie war die Reise?“, beginnt meine Mutter die Konversation. Gespannt spitze ich die Ohren, auch wenn ich es mir nicht anmerken lassen will. „Gut“, antwortet er. „Ich war drei Tage unterwegs. War interessant, das alles mal zu sehen.“
    Er spricht langsam. Seine Blicke wandern durchs Zimmer. Immer wieder treffen sich unsere Augen, doch ich schlage sie jedes Mal sofort nieder. Es fühlt sich an, als ob er mich mit seinen Augen durchleuchten wollte. Auch ich beobachte ihn genau von |49| der Seite, versuche jedoch jeden Blickkontakt zu vermeiden. Ich finde ihn schrecklich. Er hat dürre, hässliche Hände, auf denen die Adern heraustreten wie Schnüre. Seine Zähne sind kurz und fleckig. Ich könnte einfach sagen: „Weißt du, Refik, ich glaube, wir passen nicht zueinander. Am besten fährst du mit dem nächsten Bus wieder nach Hause.“
    Aber ich weiß, dass das unmöglich ist. Allein schon der Gedanke jagt kalte Schauer über meinen Rücken. Das Theater, das meine Mutter vollführen würde. Wahrscheinlich würde sogar mein Vater alle seine Grundsätze einmal mehr vergessen und mich schlagen. Möglicherweise würde ich eine Familienfehde heraufbeschwören, Refik oder sein Vater sähen sich zutiefst in ihrer Ehre gekränkt, und am Ende würde noch Blut fließen. Ich sehe wieder Ugur vor mir, wie er reglos am Boden liegt.
    Dann betritt meine Schwägerin mit ihrer neun Monate alten Tochter Ebru die Küche. Die Kleine juchzt und meine Mutter nimmt sie in ihre Arme. „Schau, Refik“, sagt sie, „was für eine süße Zuckerwatte wir hier haben.“ Und dabei sieht sie ihn an, als wollte sie ihm sagen:

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