Loewinnenherz
verdiente mir so neben meiner Arbeit in der Kanzlei noch etwas dazu. Ich hatte Schulden abzubezahlen und war dankbar für jeden zusätzlichen Euro, den ich verdienen konnte. Wenn ich mir heute bewusst mache, dass meine gesamten Ersparnisse für die Hochzeit ausgegeben wurden, und ich nach dem desaströsen Ende unserer Ehe auf einem Berg von Schulden saß, dann kann ich nur den Kopf schütteln. Für all die Misshandlungen und Demütigungen musste ich auch noch teuer bezahlen. Doch damals war mir das egal. Ich war so froh, endlich dieser Hölle entronnen zu sein, dass ich lieber jahrelang schuftete und sparte, dafür aber frei war.
Zwei Jahre nachdem ich die Einkommensteuer übernommen hatte, zog die Kanzlei, in der ich arbeitete, um und fusionierte mit einem Wirtschaftsprüfer. Irgendwann war ich die Einzige, die für Einkommensteuerfälle und Löhne zuständig war. Zu meinem Aufgabengebiet gehörten auch Buchhaltungen und Abschlüsse, die Betreuung von Außenprüfungen und die selbstständige Beratung von Mandanten. Nach wie vor ging ich zu allen Fortbildungen, die angeboten wurden. Und eines Tages hatte mein Chef wieder einmal eine seiner typischen guten Ideen.
„Weißt du was, Şengül“, sagte er, „von jetzt an fasst du die Inhalte der Fortbildungen, die du besuchst, hinterher für alle Kollegen zusammen. Auf diese Weise profitieren alle davon.“
Ich machte ein verdutztes Gesicht. Wie sollte das gehen? Aber Michael erklärte mir, dass ich einfach die Lerninhalte der Seminare in der Kanzlei referieren sollte. Einfach. Als ob das so einfach wäre.
Ich hatte noch nie einen Vortrag gehalten und als ich das nächste Mal in einem Seminar saß, war ich total aufgeregt. Ständig stellte ich mir vor, wie ich später all das, was der Seminarleiter |139| gerade erklärte, meinen Kollegen vortragen sollte. Ich beobachtete die Dozenten, machte Notizen, schrieb mir alles noch übersichtlicher und deutlicher auf als sonst. Dennoch war ich unglaublich nervös, als es so weit war und ich vor meine Kollegen trat. Ausgerechnet ich, die „kleine Şengül“, die sich sonst von den anderen so viel erklären lassen musste, sollte ihren Kollegen einen Vortrag halten. Ich hatte fürchterliche Angst, dass ich auf einmal einen Blackout haben oder die Begriffe durcheinanderbringen würde. Ich sah mich schon vorne stehen, hilflos und stotternd. Aber es kam ganz anders: Nachdem ich einmal begonnen hatte, funktionierte alles ganz wunderbar. Ich hielt mich einfach an meine Aufzeichnungen und der Rest lief wie von selbst. Es gab einige Rückfragen von Seiten meiner Kollegen, die ich alle mühelos beantworten konnte.
Meine Kollegen gaben mir hinterher jede Menge positive Rückmeldungen und lobten mich. Von nun an hielten wir es immer so. Ich ging auf die Fortbildungen und referierte hinterher für meine Kollegen die Inhalte. Das zwang mich dazu, schon während des Seminars herauszufiltern, was wirklich wesentlich war und was nicht. Denn so ein Seminar dauerte manchmal ein, zwei oder drei Tage, meine Zusammenfassungen höchstens eine oder zwei Stunden. Und wieder einmal erkannte ich, was für ein fantastischer Chef Michael war. Er hatte mich von Anfang an unter seine Fittiche genommen und gefördert. Und selbst während meiner privaten Katastrophen hatte er mir beigestanden. Im Grunde kann ich sagen, dass er mir vier Mal das Leben gerettet hat: Damals, als er mir meine erste Stelle anbot, denn ohne die Rückenstärkung durch die Kanzlei hätte ich es nie gewagt, die Scheidung einzureichen. Ein zweites Mal, als er meinen Ehemann vor seiner Kanzlei daran hinderte, mich zu töten. Das dritte Mal war an jenem Tag, an dem Refik versucht hatte, mich zu erschießen. Denn hätte ich nicht die Kanzlei zurückrufen müssen, wäre ich meinem Mörder direkt in die Arme gelaufen, so aber hatte ich mich im oberen Stockwerk des Hauses befunden. Und das vierte Mal rettete er mich, als er mich |140| weiterbeschäftigte, obwohl unser türkischer Mandant eigentlich nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Aber nicht nur das, Michael war nicht nur mein Vorgesetzter, er war auch mein Mentor, der dafür sorgte, dass ich nach und nach meine Kenntnisse erweiterte, der mich formte und bildete und eine riesige Freude daran hatte, wie aus der kleinen Şengül nach und nach eine selbstbewusste Mitarbeiterin wurde.
Denn für mich war nicht nur das Fachliche neu, auch den Umgang mit den Kunden musste ich erst lernen. Ja, das klingt vielleicht unglaublich, aber ich
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