Loewinnenherz
kannte das nicht, wie man als Mensch und Arbeitskraft in einem professionellen Umfeld agiert. Der Kontakt mit den Mandanten, herauszufinden, ob sie ehrlich zu mir waren, die Verhandlungen mit den einzelnen Sachbearbeitern beim Finanzamt und bei all dem immer den richtigen Ton zu treffen, das war für mich, als würde ich eine neue Sprache lernen. Eine riesige Herausforderung, die ich nur mithilfe meiner Kollegen bestand.
Eine meiner Stärken im Berufsleben war, dass ich immer zu meinen Fehlern stand und sie sofort mit meinem Chef besprach. Denn nur so lernte ich, wie die Fehler behoben werden konnten. Anfangs hatte ich Panik, dass nach einem Fehler alles vorbei sein würde und wir ihn nicht mehr korrigieren könnten. Und dann machte ich die Erfahrung, dass man eigentlich alles lösen kann, wenn man es nur offen und ehrlich anpackt. Ich begriff ziemlich schnell, dass Fehler eigentlich etwas wirklich Tolles sind. Durch meine Fehler lernte ich Neues dazu. Nur durch Fehler konnte ich meine Kenntnisse erweitern und ich merkte mir immer sehr genau, was ich falsch gemacht hatte und wie man es besser machte. Alle neuen Informationen sog ich, wie schon während meiner Ausbildung, auf wie ein Schwamm.
Ich war jedem dankbar, der mir etwas beibrachte und mir ehrlich sagte, wenn ich etwas falsch gemacht hatte. Für mich war es keine Schwäche, etwas nicht zu wissen. Selbst wenn die |141| anderen über meine Fehler lachten, machte mir das nichts aus; ich lachte einfach mit. Ich war ihnen nicht böse, im Gegenteil, ich war dankbar dafür, dass sie es mit Humor nahmen und nicht sauer auf mich waren. Und wenn sie mich doch einmal rundmachten, hat mir auch das Mut gemacht. Dann sagten sie zum Beispiel: „Şengül! Jetzt bist du doch schon so weit. Reiß dich zusammen!“ Dann war ich ihnen dankbar, dass ich meine Stärken vertiefen und meine Schwächen verringern konnte.
Michael war es, der mir beigebracht hat, dass auch jemand, der schwach ist, seine Stärken hat. Und das habe ich später, als ich verantwortungsvolle Positionen in der Personalführung einnahm, immer leidenschaftlich weitergeben. Schwächen sind dazu da, uns unser Potenzial aufzuzeigen.
Und so kam es, dass ich zum Liebling der Kanzlei und zum Schmuckstück meines Chefs wurde, ohne dass ich es bemerkte. Es machte ihnen allen ungeheure Freude zu sehen, wie ich mich entwickelte, und sie waren riesig stolz auf meine Fortschritte und Erfolge. „Das ist die Şengül, unsere tolle Mitarbeiterin“, stellte er mich seinen Mandanten vor. Und noch heute bewundert Michael, dass ich nicht stehen geblieben bin und zufrieden war mit einem kleinen Bürojob. So übertrug er mir nach und nach immer mehr Verantwortung, und ich ging auf wie eine Sonnenblume.
„Du bist schon immer selbstbewusst gewesen“, sagte mir neulich Claudia, eine frühere Kollegin aus der Kanzlei, mit der ich bis heute eng befreundet bin, „auch als du noch überhaupt nichts wusstest und uns mit Fragen gelöchert hast, hatten wir überhaupt keinen Zweifel daran, dass du das schaffst.“
Und ich glaube, auch das ist ein Grund für meinen beruflichen Erfolg, dass ich zwar manchmal innerlich von Zweifeln zerfressen war, das aber nach außen niemals zeigte. Ich habe meinen Beruf einfach von Anfang an geliebt und ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals ungern zur Arbeit gegangen wäre. Auch wenn ich mir Sorgen machte, dass ich meiner Aufgabe nicht gewachsen sein könnte und vor allem nachts oft Panikattacken |142| bekam. Dann habe ich mich selbst wieder aufgebaut und mir gesagt: „Komm, Şengül, du hast jetzt schon so viel erreicht. Das lernst du auch noch.“
Wenn man begeistert ist von seiner Arbeit, dann strahlt man das auch aus. Und so kam es, dass ich einen Mandanten nach dem anderen in die Kanzlei brachte, und schließlich die meisten Neukunden akquirierte. Wie ich das machte? Das ergab sich einfach so: Sobald ich zufällig mit jemandem ins Gespräch kam, lautete eine der ersten Fragen immer: „Und, was machst du beruflich?“ Offenbar schilderte ich meine Arbeit dann in so leuchtenden Farben, schwärmte dermaßen von unserer Kanzlei, dass meine neuen Bekannten oft sagten: „Wenn das so ist – eine gute Steuerberatung brauche ich eigentlich schon lange.“ Und schon kamen diese Leute dann zu uns. Viele von ihnen sind heute noch Kunden der Kanzlei, auch wenn ich mich inzwischen beruflich verändert habe.
Die Schatten der Vergangenheit
„Mama“, krähte Berna, „du bist richtig fett.“
Weitere Kostenlose Bücher