Loewinnenherz
vor dem Berg stehst und gar nicht weißt, wie du einen Fall anpacken sollst, dann sag dir einfach: ‚Es lebe das Vorjahr.‘“
|133| „Es lebe das Vorjahr?“, fragte ich konsterniert.
„Ja genau. Such dir die Einkommensteuererklärung dieses Mandanten vom Vorjahr heraus und orientiere dich an ihr. Ganz einfach.“
Und so machte ich es. Von nun an hatte ich einen Leitfaden an der Hand, an dem ich mich orientieren konnte. Und alles andere schlug ich unermüdlich in meinen Büchern nach oder fragte die Kollegen.
Von Anfang an, schon beim Lernen für die Steuerfachangestelltenprüfung, hatte ich mir angewöhnt, alles systematisch aufzubereiten und zu strukturieren. Nur so konnte ich den umfangreichen Lernstoff und all die Grundbildung, die mir damals ja noch zusätzlich fehlte, in so kurzer Zeit nachholen. Genauso ging ich auch jetzt vor. Jeden Einkommensteuerfall betrachtete ich als Lernaufgabe, und entsprechend dröselte ich die Problematik auf. Schrieb eine Frage nach der anderen auf, sortierte sie nach den entsprechenden Paragrafen, fand die Antworten entweder selbst heraus oder fragte nach.
Das waren meine ersten, zunächst zaghaften und dann immer forscheren Gehversuche mit der Einkommensteuer. Das Glück wollte es, dass unsere Kanzlei in diesen Monaten und Jahren einen enormen Zuwachs an Mandanten hatte, sodass ich gut ausgelastet war. Ich genoss es so sehr, immer wieder neu gefordert zu werden und zu merken, wie ich nach und nach sicherer wurde. Ausgesprochen hilfreich war für mich das wunderbare Arbeitsklima unter den Kollegen, mit denen ich auch heute noch, nachdem sich unsere beruflichen Wege längst getrennt haben, gut befreundet bin. Mit einer ehemaligen Kollegin bin ich bis heute eng verbunden, wir sind ein Herz und eine Seele. Ich liebe sie wie meine eigene Schwester. Ich werde diesen Menschen niemals vergessen, dass sie mir den Anfang in diesem schwierigen Beruf so leicht gemacht und mich immer wieder ermutigt und aufgebaut haben. Auch, dass sie mich an der richtigen Stelle kritisierten, wenn es nötig war, rechne ich ihnen bis heute hoch an. Ich werde nie vergessen, wie ich einmal |134| einen Brief rausschicken wollte, und glücklicherweise ein Kollege draufsah. Er sagte: „Also Şengül, jetzt schau dir das doch mal an, was du da geschrieben hast.“
Ich sah mir die Anschrift an. Und wurde bleich. Da stand: „An das Arschitekturbüro …“
Mein Kollege sah mich vorwurfsvoll an. Ich riss die Augen auf. Und dann brachen wir beide in Gelächter aus. Doch mir war klar, ich musste nachholen, was ich in den letzten Jahren der Hauptschule versäumt hatte. Und so suchte ich mir einen pensionierten Deutschlehrer, bei dem ich in meiner Freizeit auf eigene Kosten Nachhilfe in deutscher Rechtschreibung nahm, bis ich wirklich sicher in Wort und Schrift war.
Weiterlernen war für mich nach wie vor das Schönste, was mir widerfahren konnte. Und darum meldete ich mich auch immer sofort, wenn in der Kanzlei eine Fortbildung oder ein Seminar angeboten wurde. Denn eines war mir klar: Nur wenn man immer auf dem neuesten Stand ist, kann man in meinem Beruf wirklich gute Arbeit leisten. Ich hatte ja noch so viel zu lernen. Außerdem ändern sich die Steuergesetze ohnehin jedes Jahr.
Im Büro
|135| Fast genau ein Jahr nach Refiks Mordanschlag beschloss ich, endlich mit dem Leben anzufangen, das ich mir immer erträumt hatte. Und dazu gehörte etwas, was ich noch nie vorher gemacht hatte: Urlaub. Ich wollte mit meiner Tochter ans Meer fahren. Früher waren wir immer in die Heimat meiner Eltern gefahren, ein-, zweimal auch ans Schwarze Meer, aber immer war diese Zeit vorbestimmt und verplant gewesen mit Familienaktivitäten. Urlaub wie wir es hier verstehen, war das im Grunde nie. Nun wollte ich endlich selbst entscheiden, wie ich meinen Urlaub verbringe. Und so buchte ich für Berna und mich eine Woche All-Inclusive in einem schönen Hotel in Antalya Kemer.
Meine Eltern fanden das gar nicht lustig. Eine junge alleinstehende Frau fuhr nicht irgendwohin und setzte sich eine Woche lang in ein Hotel, wie auf dem Präsentierteller. Ich bat sie dennoch, uns zum Flughafen zu fahren, und noch auf der Autofahrt hörte meine Mutter nicht auf zu meckern. „Ganz alleine mit dem Kind“, jammerte sie in einem fort, „wie sieht das denn aus. Keine anständige Frau macht so etwas.“
Schließlich fuhr ich sie an: „Lass mich in Ruhe. Ich will jetzt endlich leben! Verstehst du? Leben.“
Da zog sie das Genick ein.
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