Loewinnenherz
– Und das ausgerechnet von meiner stillen, in sich gekehrten Tochter, die sonst nie den Mund aufbekam.
Ich stand in der Umkleidekabine eines Kaufhauses und betrachtete mich im Spiegel. Für die Kanzlei-Neueröffnung suchte ich etwas Neues, Schickes zum Anziehen, doch die rote Hose, die ich mir in den Kopf gesetzt hatte, wollte partout nicht über meine Hüften gehen – obwohl ich sie in Größe 46 ausgesucht hatte. Einen Moment lang war ich perplex und verletzt. Fett! Ich? Dann brach ich in schallendes Gelächter aus.
„Weißt du was, Berna?“, sagte ich, „du hast recht.“
Seit meiner Schwangerschaft hatte ich Übergewicht und wurde es einfach nicht los. Wie auch? Ich trank täglich jede Menge Cola und in meinen Tee kamen mindestens fünf Stück Würfelzucker. Erst am Abend vor dieser missglückten Einkaufstour hatte |143| ich alleine ein ganzes Brathähnchen aufgegessen. Meine Tochter hatte völlig recht: Ich war dick und wurde täglich noch dicker.
Doch damit war jetzt Schluss. Ich zog mich an und verließ mit meiner Tochter an der Hand die Umkleidekabine. Unzählige neugierige Blicke folgten mir. Warum nur hatte Berna die Wahrheit so laut herausposaunen müssen?
Am selben Abend noch fasste ich einen Entschluss. Ich würde nicht länger herumlaufen als Moppelchen. Eine Diät musste her, und zwar sofort. Ich dachte an die Anwältin, stellte mir vor, was für eine dralle Figur ich in ihrem Hosenanzug machen würde. Nein. Das kam nicht infrage. Ich war Berna richtig dankbar dafür, dass sie endlich ausgesprochen hatte, wovor ich so lange die Augen verschlossen hatte. Ich war zu dick. Doch das würde sich ab jetzt ändern. An diesem Abend aß ich nichts mehr und konnte die ganze Nacht vor lauter Magenknurren nicht schlafen.
Gleich am nächsten Morgen fuhr ich wieder in die Stadt und kaufte mir ein schickes Minikleid in Größe 36. Zu Hause hängte ich es direkt ins Wohnzimmer, wo ich es täglich sehen musste.
„Eines Tages werde ich in dich reinpassen“, verkündete ich dem unschuldigen Kleidungsstück. Wer mich dabei gesehen hätte, hätte mich ausgelacht.
Ich kaufte mir ein Buch über Ernährung und einen Crosstrainer. Aus dem Buch lernte ich vieles über Nahrungsmittel und den Stoffwechsel. Und ich erfuhr, worin sich überall Zucker und Fett versteckten; Dinge, über die ich mir zuvor nie Gedanken gemacht hatte. Zucker eliminierte ich ohnehin ganz aus meinem Speiseplan – und bis heute kommt er in meiner Ernährung nicht mehr vor. Ich legte genau fest, wie viel Gramm Fett ich von nun jeden Tag würde essen dürfen, und zählte zur Kontrolle alle Angaben auf meinen Lebensmittelpackungen zusammen. Am Crosstrainer arbeitete ich mich täglich zwei Stunden ab und kontrollierte mit einem Pulsgerät meinen Kreislauf. Ich trank klares Wasser und ungesüßten Tee, und nach halb sieben Uhr abends nahm ich keine Nahrung mehr zu mir. Auf meinem Speiseplan standen hauptsächlich Obst, Gemüse und Fisch. Am |144| späten Nachmittag aß ich Magerquark mit Obst, das füllte mir den Magen und dämpfte mein Hungergefühl, gegen das ich auch mental entschieden ankämpfen musste. Dazu stellte ich mir immer bildlich vor, wie toll ich aussehen würde, wenn ich nur erst einmal in das Minikleid passte.
Bei der Eröffnung unserer neuen Kanzlei aß ich nur Obst und ertrug es, dass mich alle auslachten.
„Mensch, Şengül“, sagten meine Kollegen, „abnehmen ist doch Quatsch! Wir lieben dich so, wie du bist. Genieß lieber das tolle Essen! Abnehmen kannst du doch immer noch.“
Aber ich wusste, dass das immer so weiter gehen würde. Nur noch diese Party und jenes Abendessen. Und so würde ich meinen Plan, endlich schlank zu werden, wie all die Jahre zuvor immer nur vor mir herschieben. Nein. Ich hatte mich entschieden, und nun gab es kein Zurück mehr.
Die ersten beiden Wochen waren hart, doch dann wurde es auf einmal leichter. Mein riesiges Hungergefühl hatte sich beruhigt, und ich bemerkte, wie sehr ich alles mit meinen Gedanken steuern konnte. Es gelang mir, immer weniger ans Essen zu denken, und wenn sich der Hunger doch wieder einmal meldete, dann trank ich ein großes Glas Wasser oder eine Apfelsaftschorle, das half. Ich kaufte mir auch eine Personenwaage und notierte akribisch mein Gewicht, und als ich die ersten Erfolgserlebnisse zu verzeichnen hatte, motivierte mich das zusätzlich.
Ein paar Monate später – es war inzwischen das Jahr 2000 – meldete ich mich in einem Fitnessstudio an. Zuerst trainierte
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