Loewinnenherz
Weiteres geben können. Es ging ums Prinzip. In den Augen meiner Mutter hatte ich ihre Hilfe nicht verdient. Weinend fuhr ich wieder nach Hause.
|148| Am nächsten Tag bat ich meinen Chef um 200 D-Mark Vorschuss, um bis zum Monatsende durchzukommen. Ich schämte mich, denn Michael war stets so gut zu mir, und ich wollte den Bogen nicht überspannen. Aber so hatte ich finanziell wieder ein bisschen Luft. Ich sparte ohnehin eisern, führte ein akkurates Haushaltsbuch, sonst hätte ich diese Jahre nicht überstanden und wäre heute nicht schuldenfrei.
Die Erkenntnis, dass mich meine Eltern zwar mein ganzes Leben lang instrumentalisiert und mir in jungen Jahren monatlich einen großen Teil meines Einkommens weggenommen hatten, mir nun aber in den Jahren der Not nicht beistehen wollten, war bitter. Ich konzentrierte mich fortan noch stärker auf meine Karriere, denn sie schien mir der einzige Weg, um aus dieser schwierigen Lebenssituation wieder herauszukommen. Dennoch blieb ein bitterer Nachgeschmack, weil ich mir alles selbst erarbeiten musste, und es niemanden in meiner Familie gab, der mir half. Und wieder dachte ich an jenen Traum, in dem mir der alte Mann erschienen war. „Beweise mir deine Geduld …“ Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es eine Macht gab, die mich beschützte und führte. Ich versuchte, mich auf die vielen positiven Entwicklungen zu konzentrieren, die mein Leben seit Refiks Tod bestimmten, und all die Düsternis des Hasses und der Rachegedanken von mir fernzuhalten.
Ich wollte nicht mein Leben lang Einkommensteuererklärungen machen, und darum begann ich neben meiner Arbeit in der Kanzlei eine Weiterbildung zur Personalfachkauffrau. Ich wollte weiterkommen, mehr Geld verdienen, selbst Chefin werden. Ich wollte andere Menschen führen und leiten. Im Gespräch mit meinen Kollegen wurde mir klar, dass ich das als Personalerin am besten könnte, und so setzte ich mir das nächste Ziel.
„Unsere Şengül ist ein Unikat“, sagte Michael, „die kann keiner stoppen.“ Natürlich motivierte mich das ungeheuer und spornte mich dazu an, wieder einmal mein Bestes zu geben. Zu dieser Ausbildung gehörte auch Arbeitsrecht, also hatte ich endlich |149| etwas zu lernen, was mit meinem alten Vorbild, der Anwältin, zu tun hatte, und selbstverständlich strengte ich mich besonders an. Es war eine harte Zeit, ich arbeitete wie immer mit 15 0-prozentigem Einsatz und lernte nachts für meine Prüfungen. Daneben versorgte ich meine Tochter, die größer wurde und ihre Bedürfnisse entwickelte. Sie machte mir Sorgen, denn je älter sie wurde, desto mehr stellte sich heraus, dass ihr Verhalten von dem Gleichaltriger abwich.
Bis zu Bernas drittem Lebensjahr verlief alles so normal, wie es unter unseren familiären Umständen möglich war. Sie war ein waches und neugieriges Kind und bereits mit zwölf Monaten trocken. Berna wuchs mehr oder weniger gemeinsam mit den Kindern meines älteren Bruders auf, und irgendwann fiel auf, dass sie den anderen in der Entwicklung hinterherhinkte. So richtig klar wurde uns das allerdings erst viel später. Erst 2006, als Berna bereits dreizehn Jahre alt war, stellte ein Arzt die Diagnose, dass sie geistig behindert ist. Bis dahin hatten wir alle gedacht, sie sei einfach nur ein bisschen in ihrer Entwicklung verzögert. Man merkte ihr die Behinderung nicht wirklich an, und woher sie genau rührte, das ist bis heute nicht klar. Ob es an den schwierigen Umständen in der Schwangerschaft lag, als ich so große Probleme mit den Nieren hatte und ständig Medikamente nehmen musste? Oder ob sie während der Geburt, die bereits im achten Monat eingeleitet worden war, einen Sauerstoffmangel erlitten hatte? Ich glaube das nicht, denn in den ersten Jahren als Baby und Kleinkind gab es dafür keine Anzeichen. Ich bin deshalb fest davon überzeugt, dass Bernas Behinderung von den Misshandlungen ihres Vaters herrühren, und mir blutet das Herz, während ich dies niederschreibe. Ich werde mir mein Leben lang Vorwürfe machen, dass ich nicht in der Lage war, dem Ganzen früher ein Ende zu bereiten. Dass ich viel zu lange der Familie zuliebe den Schein wahren wollte und zu große Angst vor einer gewaltsamen Eskalation der Situation hatte. Und ich möchte jede Frau und Mutter, die sich in einer ähnlichen Situation befindet, ermutigen, keinen Tag länger hinzunehmen, |150| dass Misshandlungen gang und gäbe sind. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, ich würde mich heute anders verhalten.
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