Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Loewinnenherz

Loewinnenherz

Titel: Loewinnenherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Senguel Obinger
Vom Netzwerk:
Damals allerdings war mir das einfach unmöglich. Ich hatte niemanden, der mir Rat gab, niemanden, der mir Mut zusprach, mich zu wehren. Niemanden, der mir einen echten Ausweg aus meiner Situation aufzeigen konnte.
    Die Ersten, die mich darauf hinwiesen, dass Berna sich seltsam verhielt, waren die Erzieherinnen im Kindergarten in Nürnberg. Später bemerkte es auch die Familie, aber da alle Berna sehr lieb hatten, sah man einfach großzügig darüber hinweg. „Das verwächst sich wieder“, hieß es, und das hoffte auch ich. Es dauerte viele Jahre, bis ich merkte, dass sich da nichts „verwächst“, und ging mit Berna zu verschiedenen Ärzten. Auch die sagten: Das wird sich geben. Bis sie größer wurde und man feststellte, dass mit der Fein- und Grobmotorik etwas nicht stimmte. Es kam vor, dass sie beim Laufen einfach hinfiel, und während wir zunächst dachten, naja, da ist sie einfach ein bisschen schusselig gewesen, stellte sich später heraus, dass sie Probleme mit dem Gleichgewichtssinn hat. „Man muss abwarten und das weiter beobachten“, sagten die Ärzte, doch besonders wohl war mir bei der Sache nicht.

    Meine Tage waren also mehr als ausgefüllt, und es war gut, dass ich schon während meiner Ehe gelernt hatte, mit wenig Schlaf auszukommen, und hauptsächlich nachts zu lernen. Als ich 2003 meine Prüfung als Personalfachkauffrau ablegte, bestand ich die schriftlichen Prüfungen, nur in der mündlichen Prüfung fiel ich in einem einzigen Fach durch – in Volkswirtschaft. Was für ein Dämpfer! Aber ich muss zugeben, ich hatte auch wirklich nicht die geringste Ahnung davon. Als sie mich in der Prüfung fragten, ob ich etwas zum volkswirtschaftlichen Warenkorb sagen könnte, da schaute ich sie groß an und erkundigte mich, ob sie den Warenkorb bei Aldi meinten oder was. Mir wurde klar, wie ahnungslos ich auf diesem Gebiet war, bekam einen fürchterlichen Schweißausbruch, konnte keine Frage vernünftig |151| beantworten, und wunderte mich kein bisschen, als es hieß, ich sei durchgefallen. Okay, sagte ich mir, da musst du dich reinknien, und beschloss, die Prüfung bei einem der nächsten Termine zu wiederholen. Zum Glück wurden mir die bestandenen Prüfungen angerechnet, ich musste nur in Volkswirtschaft erneut antreten.
    In diesem Jahr, es war inzwischen 2003, geschah ungeheuer viel auf einmal. Zum einen starb mein Onkel in der Türkei, und ich flog seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder in die Heimat meiner Eltern. Wie sehr ich das Fliegen hasste! Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in meinem Sitz saß, mit feuchten Händen und einem mulmigen Gefühl im Bauch. Die Tür zum Cockpit stand eine Zeit lang offen und ich hatte einen guten Blick auf die Piloten.
    „Lieber Gott“, flehte ich still vor mich hin, „lass mich heil ankommen. Und um eines bitte ich dich noch: Mach, dass mein Traummann kein Pilot ist. Alles andere, aber nicht das.“
    Nach der Beerdigung meines Onkels fuhr ich zu Refiks Eltern. Ich fürchtete nun nicht mehr, getötet zu werden, sie waren zur Besinnung gekommen. Durch Krankheit waren die beiden inzwischen alten Leute in Not geraten, ein Unglück nach dem anderen hatte die Familie gebeutelt, und endlich sahen auch sie ein, dass ihr sinnloser Hass auf mich niemandem nützte, auch ihnen nicht.
    Mir war dieser Besuch sehr wichtig. Ich bin ein Mensch, der gerne Frieden schließt und mit Ereignissen, die in der Vergangenheit liegen, abschließen möchte. Nur so, das hatte ich längst begriffen, ist man in der Lage ein neues Leben zu beginnen. Was nützen uns Wut und Hass, was bringt es, auf einer sinnlosen Rache zu beharren? Nichts. Gewalt gebiert nur immer wieder neue Gewalt, neues Leid, neuen Hass. All das versuchte ich meinen Schwiegereltern zu erklären.
    Ich versicherte ihnen, dass ich nie gewollt hatte, dass die Situation derart eskalierte, und dass ich ihren Sohn darum viele Jahre lang gedeckt hatte, obwohl er mich so schwer misshandelt hatte. Aber es ging ja nicht nur um mich, sondern auch um das |152| Leben und Glück eines kleinen Mädchens. Und dass ich das nicht länger hatte mit ansehen können, es vielleicht ohnehin viel zu lange geduldet hatte. Durch das Unglück, das über ihre Familie gekommen war, konnten Refiks Eltern das endlich annehmen, auch bei ihnen fand ein Umdenken statt, und sie sahen ein, welchen Anteil sie selbst an dieser Tragödie hatten.
    Ich bin von Natur aus jemand, der in Harmonie mit anderen leben möchte. Es ist meine feste Überzeugung,

Weitere Kostenlose Bücher