Loewinnenherz
achthundert Mitarbeitern mit dem neuen Programm erfasst werden, und dafür hatte ich genau einen Monat Zeit. Sechzig Prozent der Mitarbeiterdaten konnte ich automatisch übernehmen, aber den Rest musste ich einzeln und per Hand eingeben.
Wieder einmal hatte ich schlaflose Nächte, in denen ich mich fragte, ob ich mich diesmal endgültig übernommen hatte. Ob das alles nicht auf ein Fiasko hinauslief und am Ende vom Monat achthundert Mitarbeiter rebellierend bei uns auf der Matte stehen würden, weil ihre Lohnabrechnungen nicht stimmten. Die Dateneingabe musste ich in der Firma selbst vornehmen, und dort saß ich bis tief in die Nacht, arbeitete Karteikarte um Karteikarte ab und versuchte, nur ja keinen Fehler zu machen. Die Firma war in einem uralten Gebäude untergebracht, und bis zur nächsten Toilette waren es gut zweihundert Meter, die ich während dieser langen Abende im Sprint zurücklegte, so groß war meine Angst, aus der Dunkelheit könnte mich ein Monster anspringen. Ich zog |155| mir dafür sogar extra Sportschuhe an. Manchmal besuchte mich mein Freund, brachte mir etwas zu Essen mit und unterstützte mich, so gut er konnte. Er war sehr stolz auf mich und zitterte mit mir, ob ich es wohl schaffen würde.
Irgendwann rief mich der Firmenchef zu sich und fragte: „Na, wie läuft‘s?“
„Gut“, sagte ich, innerlich schlotternd, aber nach außen völlig ruhig.
„Du schaffst das, oder?“
„Na klar.“
Und tschüss.
Als mir nur noch eine Woche blieb, hatte ich von den restlichen vierzig Prozent, die ich von Hand eingeben musste, erst dreißig Prozent geschafft und noch immer keine Probeabrechnung durchlaufen lassen. Drei Tage lang arbeitete ich bis ein Uhr nachts. Nie werde ich den Moment vergessen, als ich den allerletzten Zettel eingegeben hatte. Mein Kopf sank auf den Tisch, und ich sandte ein Dankgebet gen Himmel.
Punktgenau war alles geschafft, jeder bekam seine Abrechnung. Am Ende war alles in Ordnung und ich war überglücklich. Einmal mehr hatte ich eine Hürde genommen. Ich erklärte den Mitarbeitern die neuen Lohnzettel, die anders aussahen als jene, die sie bislang gewohnt gewesen waren. Die Firmenleitung war höchst zufrieden mit mir, und so konnte die Arbeit für die Betreuung der Lohn- und Rentendateien in aller Ruhe an zwei Tagen in der Woche vor Ort in der Firma erledigt werden.
So ging es eine ganze Weile, bis es immer häufiger hieß: „Da gibt es einen Mitarbeiter, der abgemahnt werden muss.“ oder „Eine Kollegin braucht ein Zeugnis.“ Und so weiter und so fort. Da sagte ich: „Leute, das schaff ich nicht in den vereinbarten zwei Tagen.“ Und so stockten wir von zwei Tagen auf drei auf.
Es war ein ganz langsamer Prozess, der da in Gang kam, doch nach und nach war klar, dass es immer mehr Personalaufgaben in der Firma gab, die ich übernehmen sollte. Eines Tages bat mich der Firmenleiter zu einem Gespräch.
|156| „Wollen Sie nicht ganz bei uns einsteigen? Wir würden Ihnen gerne anbieten, bei uns Personalleiterin zu werden.“
Mir war sofort klar, welch einmalige Chance das war. In der Kanzlei würde ich, so sehr ich auch gefördert und geliebt wurde, doch stets „die kleine Şengül“ bleiben, wäre immer Angestellte mit einem Gehalt, das sich mit dem einer Personalleiterin nicht vergleichen ließ. Dieses Angebot war genau das, was ich angestrebt hatte: selbst eine Führungsposition einzunehmen, andere Menschen zu führen. Ich fand, dass ich inzwischen reif war für eine solche Aufgabe. Und darum musste ich mir dieses Angebot nicht zweimal überlegen.
Es tat mir in der Seele weh, die Kanzlei zu verlassen. Hier hatte ich meine ersten Schritte machen dürfen, hier hatte ich alles gelernt, was ich konnte. Hier hatte ich nicht nur Freunde fürs Leben gefunden, sondern auch eine Heimat. Doch ich spürte, dass die Zeit gekommen war, dieses warme Nest zu verlassen. Auch für Michael war es schwer, mich gehen zu lassen. Wenn man jemanden fördert, muss man auch akzeptieren, dass er flügge wird. Und Michael verstand das.
Er hatte allerdings auch warnende Worte für mich.
„Şengül“, meinte er besorgt, „bist du sicher, dass du schon so weit bist? Das ist ein großer Schritt. Da hast du eine Riesenverantwortung.“
Er hatte recht. Es war ein Sprung ins kalte Wasser. Aber es war schon immer so gewesen, dass ich die Latte für mein nächstes Ziel extrem hoch gehängt hatte, denn nur das, scheint es, spornt mich zu Höchstleistungen an. „Ich schaff das“,
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