Loewinnenherz
erklärte ich bestimmter, als ich es tatsächlich war. Meinem neuen Vorgesetzten sagte ich ganz offen, dass ich noch immer nicht alle Prüfungen für die Personalfachkauffrau in der Tasche hatte, noch immer hing mir diese verflixte Volkswirtschaftsprüfung nach.
„Ach was“, sagte er, „das schaffen Sie schon.“
Und damit war für ihn die Sache erledigt. Ich dagegen war mir da gar nicht so sicher. Michaels Einwände machten mir schwer zu schaffen. Nachts lag ich wach und fragte mich, ob |157| meine Entscheidung richtig war. Michael war schließlich mein Lebensretter, so viele Jahre lang war er für mich da gewesen. Die Zuversicht meines neuen Arbeitgebers, ich würde das alles schon schaffen, machte mich nervös, offenbar erweckte ich den Anschein, alles zu können. Dabei musste ich noch so viel lernen.
Und so wurde ich quasi über Nacht zur Personalleiterin. Es war wie in einem Traum. Um diesen Karrieresprung auf meine ganz persönliche Weise zu feiern, kaufte ich mir meine erste Aktentasche. Seit ich damals mit zwölf Jahren vor Gericht die Anwältin gesehen hatte, war eine Aktentasche für mich ein ganz besonderer Gegenstand. Sie symbolisierte all die Macht und die Kompetenz, die jene wunderbare Frau ausgestrahlt hatte. Nun endlich war ich so weit, mir selbst diesen fast magischen Gegenstand anzuschaffen. Ich war von Anfang an der Meinung gewesen, dass man sich solch eine Auszeichnung wie die Aktentasche erst verdienen muss. In meiner kindlichen Auffassung fand ich, dass nicht jeder würdig war, so etwas zu besitzen. Doch ich war nun endlich so weit.
Das Herz klopfte mir bis zum Hals als ich in dem eleganten Geschäft stand, meine Hand über das weiche, glatte Leder der verschiedenen Modelle gleiten ließ, bis ich schließlich meine Wahl traf: Ich entschied mich für eine seriöse braune Tasche aus echtem Leder mit einem umlaufenden Reißverschluss. Sie hatte einen schön geformten Griff, keinen langen Tragegurt, um sie lässig über der Schulter zu tragen. Nein, ich wählte ganz bewusst ein schlichtes und elegantes Modell, das mich an die Aktentasche der Anwältin vor so vielen Jahren erinnerte.
Was für ein spannendes Innenleben meine Aktentasche doch hatte! In ihr gab es Platz für Stifte und wichtige Visitenkarten und eine Schnellhefterklammerung für Klarsichthüllen, sowie ein extra Fach für zusätzliche Unterlagen. Jeden Morgen, wenn ich die Aktentasche ergriff, um sie mit zur Arbeit zu nehmen, sagte ich mir: „Şengül, dies ist kein Traum. Es ist wirklich wahr.“ Im August 2004 erfüllte ich mir noch einen Traum: Ich kaufte mir ein |158| schickes Auto, einen nigelnagelneuen schwarzen Audi A3. Ich holte ihn höchstpersönlich aus dem Werk in Ingolstadt ab.
Wenn die Tasche dann neben mir auf dem Beifahrersitz lag, streichelte ich sie manchmal ganz sanft, wie eine Katze. Sie war mir in diesen Zeiten, in denen ich meine ersten Sporen als Führungskraft verdiente, eine treue Begleiterin, und obwohl ich heute mehrere Aktentaschen in verschiedenen Ausführungen und Farben besitze, so nimmt diese allererste braune, inzwischen schon etwas abgegriffene Ledertasche, der man mein bewegtes Arbeitsleben durchaus ansehen kann, immer noch einen wichtigen Platz in meinem Leben ein. Sie war für mich ein Glücksbringer, eine magische Waffe, und die konnte ich in meinem neuen beruflichen Umfeld auch ganz gut gebrauchen.
An meinem ersten Arbeitstag als Personalleiterin führte mich der Chef durch die gesamte Firma und stellte mich allen Mitarbeitern vor. Diesen Rundgang werde ich nie vergessen, all die Blicke, mit denen ich erstaunt und bewundernd gemustert wurde. Und plötzlich überfluteten mich Erinnerungen: meine eigene Zeit in der Fabrik vor meiner Verheiratung, als ich ganz unten angefangen hatte als Akkordarbeiterin am Fließband, wie ich mich rasch zur Qualitätssicherung hochgearbeitet hatte. Ich sah mich selbst in einigen dieser jungen Gesichter und musste mit den Tränen kämpfen, wenn ich daran dachte, was damals alles noch vor mir gelegen hatte, diese entsetzlichen Jahre der Demütigungen und Misshandlungen, in denen ich keine Perspektive hatte. In diesem Augenblick konnte ich es kaum fassen, dass ich jetzt hier als Personalchefin vorgestellt wurde, dass ich nicht nur der Ehehölle entkommen war, sondern mich über die Jahre derart hatte qualifizieren können. Und das ohne besonders guten Hauptschulabschluss, ohne solides Allgemeinwissen, ohne familiäre Förderung. Ich wusste an jenem Morgen,
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