Lohn des Todes
zur Seite gerutscht,
ich zog sie wieder über mich, griff nach dem Handy, das ich auf lautlos gestellt hatte. Es war halb zwölf. Vor einer Stunde
erst war ich zu Bett gegangen. Mein Vater rief an. Etwas musste passiert sein.
»Vati?«, fragte ich panisch.
»Conny, verzeih, dass ich dich so spät störe, aber hast du etwas von Rita gehört?«
»Was ist mit Mama?«
»Ihr geht es gut. Morgen kommt sie nach Hause. Ich mache mir nur Sorgen um deine Schwester, kann sie seit zwei Tagen nicht
erreichen.«
»Rita?«, fragte ich verwirrt.
»Ja, ich weiß nicht, wo sie ist.«
Ich zog die Decke enger um mich, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ich war immer noch nicht richtig wach.
»Ist sie nicht in Prag?«
»Sie wollte heute zurückkommen, aber ich erreiche sie nicht.«
Ich versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken, es gelang mir nicht.
»Habe ich dich geweckt, Constanze? Das tut mir leid. Mutter hat nach Rita gefragt, und ich habe versucht, deine Schwester
zu erreichen, aber ihr Telefon scheint ausgeschaltet zu sein. Was mache ich denn jetzt?«
»Vor allem machst du dir keine Sorgen. Sie wollte noch länger dort bleiben. Du kennst sie doch, sprunghaft und spontan. Sag
Mutter, dass Rita unterwegs ist.« Ich verwünschte meine Schwester im Stillen. Hatte mein Vater nicht genug Sorgen? Konnte
sie sich nicht wenigstens mal melden? Gleichzeitig spürte ich die Last der Verantwortung. Meine Eltern |133| wurden alt. Ich würde mich zunehmend mehr um sie kümmern müssen.
»Ach, du hast ja recht. Es ist seltsam, ich komme mir so verloren vor ohne deine Mutter und denke viel mehr nach. Ich bin
so froh, dass sie bald wieder zu Hause ist. Es tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe.«
»Das ist schon in Ordnung. Soll ich morgen zu euch hochfahren?«
Mein Vater schwieg für einen Moment, er schien zu überlegen. »Nein, ist nicht nötig«, sagte er dann. »Ich melde mich, wenn
ich wirklich Hilfe brauchen sollte. Geh wieder ins Bett. Gute Nacht.«
»Du solltest auch schlafen gehen, Vati. Wirklich. Es nützt nichts, wenn du dir den Kopf über Rita zerbrichst.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, blieb ich noch einen Augenblick sitzen. Inzwischen war ich hellwach. Ich wählte die Nummer meiner
Schwester, erreichte sie aber auch nicht. Wütend hinterließ ich eine Nachricht auf der Mailbox.
Die Angst, die ich empfunden hatte, als ich aufwachte und nicht direkt wusste, wo ich war, saß mir immer noch in den Knochen.
Vermutlich würde ich sie mein ganzes Leben mit mir führen. Was, dachte ich, hatten wohl die Opfer unserer Fälle empfunden?
Gefangen, geschlagen, gepeinigt? Wussten sie, dass sie sterben würden, oder hatten sie noch gehofft? Wann war das letzte Fünkchen
Hoffnung erloschen? In dem Moment ihres Todes? Oder als ihre Lebenskraft mehr und mehr schwand?
Die Wunden, die der Täter den Opfern zugefügt hatte, waren nicht zufällig. Sie waren, dachte ich, der Ausdruck seiner in der
Tat ausgelebten psychischen Motive. Er hatte sich vorher genau überlegt, was er den Opfern wie zufügen wollte, und sich akribisch
an seinen Plan gehalten.
Die Wunden von dem alten Mann und Sonja unterschieden sich, fiel mir ein. An die genauen Details konnte ich mich nicht mehr
erinnern. Ich lauschte, hörte von unten leises Stimmengemurmel. Vielleicht schaute Robert Fernsehen. Sollte ich |134| aufstehen und hinuntergehen? Was aber, wenn er Besuch hatte? Ich wollte weder ihn noch mich in eine peinliche Situation bringen.
Doch der Gedanke an die Opfer ließ mich nicht los.
Schließlich stand ich auf, öffnete vorsichtig die Tür. Im Flur brannte Licht. Ich ging zur Treppe, lauschte wieder. Nun konnte
ich eindeutig Roberts Stimme erkennen, jedoch nicht verstehen, was er sagte. Dann schwieg er, und ich hörte auch keine andere
Stimme. Er telefoniert, dachte ich. Sollte ich hinuntergehen? Ich gab mir einen Ruck. Langsam ging ich in Richtung Esszimmer,
denn dort brannte noch Licht. Meine nackten Füße tapsten über die Fliesen. Zu meiner Überraschung war der Boden warm, eine
Fußbodenheizung. Die Tür stand einen Spalt weit auf, ich lugte in den Raum. Robert saß am Tisch, die Akten vor sich ausgebreitet.
Das Handy lag auf den Unterlagen, offensichtlich hatte er das Gespräch beendet. Ich zögerte, doch da hob er den Kopf und sah
mich an.
»Constanze? Ist etwas?«
Tiefe Falten hatten sich in seine Stirn und um die Mundwinkel eingegraben. Er sah müde aus, erschöpft.
»Du arbeitest
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