Lohn des Todes
Maria. Würde er sie auch küssen? Berühren? Wie fand man das Vertrauen wieder, nachdem es einmal zerstört worden war?
Die Tür schloss sich hinter ihm. Ich starte auf das weißlackierte Holz. Dann wandte ich mich um. Ich war erschöpft, ausgelaugt.
Den Gedanken an Sven verbot ich mir, die Wunde war zu frisch und zu offen. Etwas Schlaf würde mir guttun. Doch nachdem ich
mich eine Stunde lang im Bett von einer Seite auf die andere gedreht hatte, gab ich auf. Ich war viel zu aufgedreht, um zu
schlafen. Die Gedanken spielten Fangen in meinem Kopf. Ich stand auf, zog mich an und lief mit dem Hund eine Runde um die
Frankenburg. Dann ging ich zum Neumarkt. In der Kinderarztpraxis nebenan war es erstaunlich |154| ruhig. Ich winkte meiner Freundin Stephanie Baelen zu, der die Praxis gehörte, und ging in meine Räume. Ich nahm Svens Akte,
konnte sie aber nicht öffnen. Nach einer Weile rief ich seine Eltern an. Ich versprach Simone, ihr bei den Vorbereitungen
zur Beerdigung zu helfen. Sie sollte wahrscheinlich am Freitag sein.
Martin und ich hatten keine Kinder, auch wenn wir uns immer welche wünschten. Er war nur bedingt zeugungsfähig, die Ärzte
hatten uns erklärt, dass es vermutlich nur mit einer künstlichen Befruchtung möglich sein würde, doch dazu war ich nicht bereit
gewesen. Jetzt dachte ich wieder darüber nach. Ich wusste, Martin wünschte sich sehnlich ein Kind. Vielleicht war das auch
ein Grund für ihn, sich Maria zuzuwenden. Dieser Gedanke ließ wieder die Wut in mir hochsteigen, die Unruhe kehrte zurück.
Es hatte keinen Sinn, ich musste mich irgendwie beschäftigen und ablenken. Hechelscheid fiel mir ein. Ich würde in die Eifel
fahren und dort gründlich sauber machen. Als ich den Raum verließ, drehte ich mich noch einmal um. Auf dem Schreibtisch lagen
zwei Akten. Die von Sven und die von Sonja. Ich nahm beide mit.
Es war gegen Mittag, als ich die Himmelsleiter emporfuhr. Es hatte sich zugezogen. Dunkle Wolken hingen tief und regenschwer
vom Himmel. Mitten in der Woche und noch dazu bei schlechtem Wetter hierher zu fahren hatte einen Vorteil – es gab kaum Verkehr.
Ich nahm die Bach-CD aus dem Wechsler, hätte die Musik jetzt nicht ertragen. Auf gut Glück griff ich nach einer anderen, legte
sie ein. Simon und Garfunkel, wo kam die denn her? Aber ich ließ die Musik laufen, es waren ruhige, vertraute Lieder. Es begann
zu regnen, erst ganz sanft, ein leichter Schauer, dann wurde es stärker. »This is my song for the asking« – das traf meine
Gemütslage. Zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Warum? Warum Maria? Warum musste Sven sterben? Warum wurde Sonja
getötet? War der Täter tatsächlich ein Verwandter von ihr? Ihr Vater konnte es nicht sein, da war ich mir sicher. Oder doch?
Über die Frage grübelnd hätte ich fast die Abzweigung nach Hechelscheid |155| verpasst. Ich trat auf die Bremse, die Reifen blockierten, und der Wagen rutschte auf den Graben zu. Im letzten Moment konnte
ich ihn wieder in meine Gewalt bringen. Ich gab Gas, bog in den Weg ein, und die Reifen drehten auf der nassen Straße durch.
Ich schleuderte nach rechts, fing den Wagen. Leise fluchend fuhr ich den Hang hinunter, mein Herz pochte wie wild. Die Reifen
meines Golfs waren schon alt, vielleicht zu alt. Bei Regen rutschten sie. Wenn mir ein Auto oder ein Motorrad entgegengekommen
wäre, hätte ich nicht ausweichen können. Daran mochte ich gar nicht denken. Ich war übermüdet, überreizt.
Ich fuhr in die Einfahrt unseres Hauses, parkte den Wagen. Der Regen ließ gerade nach. Charlie stürmte nach draußen, beschnüffelte
glücklich den Hof, markierte jede Ecke. Er tat mir leid, wurde seit Tagen hin und her gefahren. Hier fühlte er sich wenigstens
wohl.
Ich entlud den Wagen, öffnete alle Fenster im Haus und sorgte für Durchzug. Es roch nach Regen und gepflügten Feldern. Die
Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, ungespültes Geschirr, überlaufende Aschenbecher. Es schüttelte mich. Und doch konnte ich
mich nicht dazu bringen, direkt zur Tat zu schreiten. Langsam stieg ich die steile Treppe empor, blieb in dem kleinen Flur
stehen. Rechts war die Tür zu unserem Schlafzimmer, links die Tür zu dem Raum, in dem Martin Maria geliebt hatte. Ich blieb
vor der Tür stehen, öffnete sie dann zögernd. Wollte ich das Zimmer sehen? Ein Bett stand unter dem kleinen Fenster. Das Zimmer
war so winzig, dass das Bett den ganzen Raum beherrschte. Die Laken
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