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Lohn des Todes

Titel: Lohn des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Renk
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Leute vom Pflegedienst sagen, dass es nicht mehr lange dauern wird. So klar wie heute war er seit Tagen nicht mehr. Es
     ist, als hätte er auf dich gewartet.« Sie wischte sich über das verquollene Gesicht. »Kannst du hier bleiben? Ich habe das
     Gästezimmer hergerichtet.«
    Charlie, dachte ich, er wartet in der Oppenhoffallee auf mich. Eigentlich gehörte ich an Svens Bett, die nächsten zehn, fünfzehn,
     achtundvierzig Stunden. Solange wie es eben dauerte. Aber Charlie war auch ein Lebewesen und mir anvertraut. Und es gab keinen
     Martin mehr in meinem Leben, den ich hätte fragen können, oder doch?
    »Ich muss etwas abklären«, sagte ich zu Simone und ging hinaus. Das Handy wog schwer in meiner Hand, ich zögerte, es zu benutzen.
    Schließlich überwand ich mich und wählte Martins Nummer. Atemlos lauschte ich.
    |149| »Ja?« Er klang ungehalten, wütend.
    »Martin, ich brauche deine Hilfe.« Ich stockte, zwang mich dann weiter zu reden. »Sven stirbt.«
    »Was?«
    »Er wird sterben. Bald. Und er möchte … möchte …«
    »O mein Gott. Sven? Der kleine Sven?« Martin klang fassungslos.
    »Ich möchte bei ihm bleiben. Er möchte es, und ich bin es ihm schuldig.«
    »Ja.«
    Wir schwiegen.
    »Es tut mir so leid, Conny, es ist furchtbar. Kann ich etwas tun?«, fragte Martin dann.
    »Das kannst du. Charlie … er ist in der Oppenhoffallee. Kannst du ihn nehmen?«
    Für einen Moment hörte ich nichts.
    »Ja«, sagte Martin dann. Es klang gepresst.
    »Wirklich?«
    »Ja.« Dann legte er auf. Verwundert starrte ich das Handy an, konnte nicht fassen, dass er das Gespräch so beendet hatte.
    Ich ging den Hang hinunter, zwischen blühenden Holunderbüschen entlang. Lief bis zum Bach. Dann drehte ich mich um, sah hoch.
     Von hier aus waren die Häuser kaum zu sehen. Dort oben lag Sven und wartete auf mich.
     
    Als ich zurückkehrte, hatte Simone ihm die Sauerstoffmaske aufgezogen. Der Pflegedienst kam, wechselte den Tropf. Ich half
     Simone, Sven zu waschen und zu säubern. Sie weinte dabei.
    »Als er ein Baby war, war es normal, ihm Windeln anzulegen aber nun? Es hat ihn so erniedrigt, er hat sich so geschämt. Manchmal
     ist es zu grausam.« Ihr Mann saß neben uns, sein Gesicht war ganz grau.
    »Was wird aus Mama und Papa?«, hatte Sven mich gefragt, ich hatte keine Antwort darauf. Sie hatten bewusst auf weitere Kinder
     verzichtet, hatten ihr Leben auf den kranken Sohn |150| ausgerichtet. Was würde werden? Was würde aus ihnen werden? Im Laufe der Nacht fassten sie sich bei den Händen. Ich sah es
     aus den Augenwinkeln und hätte sie fast um den Halt beneidet, den sie sich gaben. In ihrer Haut wollte ich jedoch nicht stecken.
    Die Amsel sang ihr Morgenlied, als Sven seinen letzten Atemzug tat. Er war nicht wieder aufgewacht.
    Wir weinten alle drei. Dann wuschen wir ihn, bevor wir den Arzt anriefen. Die Formalien nahmen ihren Lauf, ich fuhr nach Hause.
    Noch nie hatte ich mich so erschöpft gefühlt, so ausgebrannt und leer. Ich drückte die Taste des CD-Players. Immer noch Bach.
     »Schlafe mein Liebster, genieße die Ruh«, sang ein Sopran.
    Ich fand einen Parkplatz in einer Seitenstraße, ging langsam zu Oppenhoffallee. Um mich herum erwachte die Stadt, der Dunst
     des Ofens kräuselte sich aus dem Kellerschacht der Bäckerei empor, Waren wurden angeliefert, Menschen fuhren zur Arbeit.
    Die Treppe stieg ich mühsam hoch, es roch nach feuchten Schuhen und schlecht gewordener Milch, bis ich meine Wohnung betrat.
     Dort roch es nach Vanillekerzen, wie in Svens Zimmer. Ich rannte zum Bad, erreichte es gerade rechtzeitig und erbrach mich.

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    Kapitel 17
    Charlie kam zu mir, stupste mich an. Ich lehnte mich gegen die Badewanne.
    »Conny.« Martin kniete neben mir, nahm mich in den Arm, wiegte mich sanft und strich mir über Kopf und Rücken. »Ist es vorbei?«,
     flüsterte er.
    Ich nickte. Was machte Martin hier?, fragte ich mich überrascht. Ich hatte damit gerechnet, dass er den Hund zu sich |151| nach Köln holte. Seine Wange fühlte sich rau und stoppelig auf meiner Haut an, er hielt mich so fest, dass ich kaum Luft bekam,
     doch seine Wärme tat mir gut.
    Eine Weile hockten wir auf dem Badezimmerboden, hielten uns. Dann schob ich ihn sachte von mir weg, sah ihn an. Er sah übernächtigt
     aus, verkniffen. Die zwei Falten in seinen Mundwinkeln waren neu. Ich legte die Hand auf sein Kinn, versuchte die Haut zu
     glätten. Unsere Augen tauchten ineinander, stumm stellten wir uns Fragen, auf die es keine

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