Lokale Erschuetterung
vor. Und nun schreiben sie lauter falsche Sätze auf, weil ihnen nichts Besseres einfällt. Was sollen sie tun? Seeler war ein Arschloch, und so etwas veröffentlicht man nicht in der Lokalzeitung. Wenn man lügt, werden die Sätze eben schlecht. Mit oder ohne Abitur. So ist das.
Hanns steht abrupt auf, nimmt seine Jacke und murmelt, er müsse noch mal ins Krankenhaus, nachhaken, was mit der mordenden Krankenschwester ist. Und es täte ihm leid, dass er so laut geworden ist. Kein guter Tag heute, murmelt er und geht.
Daniel kommt erst in drei Stunden, die Zeit wird lang. Aber er hat auch noch keinen Plan für das Gespräch. Weiß noch nicht, ob er gleich mit der Tür ins Haus fallen oder sich anschleichen soll.
Daniel, bist du der Sohn meiner Frau? Wie klingt das? Hanns sitzt im Auto und sagt den Satz probehalber.
Bist du der Sohn meiner Frau?
Er denkt daran, wie seine Mutter ihm gesagt hatte, dass sein Bruder gar nicht mit ihm blutsverwandt, sondern ein adoptiertes Kind ist. War. Ein adoptiertes Kind war. Als seine Mutter es ihm erzählte, war Michael tot. Frisch gestorben, gerade mal drei Tage unter der Erde. Selbst heute noch, nach vierzig Jahren, dehnt sich violette Trauer in seinem Körper aus, wenn er an Michael denkt. Daran, wie stolz er auf seinen großen Bruder gewesen war, nur drei Jahre älter als er, aber ein Beschützer, der nie versagt hatte. Dann war er krank geworden. Hatte Kopfschmerzen bekommen und Anfälle, die ihn schwach machten und sabbern ließen. Und als sie im Kopf nachschauten, fanden sie einen Tumor, so groß wie ein Tennisball. Mit dem konnten |291| sie nichts anfangen. Die letzten zwei Monate seines Lebens hatte Michael im Krankenhaus verbracht. Am Ende lag er noch vier Tage im Koma. Und dann war er tot und begraben, und seine Mutter hatte Hanns erzählt, dass er gar kein echter Bruder gewesen war, sondern nur ein adoptiertes Kind. Hanns hatte zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht gewusst, was ein adoptiertes Kind ist. Michael sei geboren und gleich nach der Geburt von seiner Mutter zur Adoption freigegeben worden, hatte Hanns’ Mutter erzählt, als machte es die Tatsache, dass Michael kein Blutsbruder war, einfacher, mit dessen Tod klarzukommen. Aber so war es nicht. Hanns hatte sich nur doppelt betrogen gefühlt. Um Michael und die Möglichkeit, richtig traurig zu sein. Trauert man um einen Adoptivbruder genauso wie um einen Blutsbruder? Sicher nicht, hatte Hanns damals gedacht und eine unerklärliche Wut auf Michael verspürt. Der hatte ihn um etwas gebracht. Er war ein Verräter, hatte sich eingeschlichen, ohne ein Recht darauf zu haben. Hanns hatte die Trauer umgewandelt in etwas völlig Destruktives, hatte sich zum Einzelkind gemacht und Michael in eine Schublade gesteckt, wo der dann noch mal verreckt ist. Wahrscheinlich.
Aber dafür, dass er es so gemacht hat, ist er ja von Veronika bestraft worden. Monat für Monat, Jahr um Jahr. Die ganzen toten Kinder. Die ungeborenen, die abgegangenen, das noch vor der Geburt gestorbene. All die toten Kinder, um die er als erwachsener Mann trauern konnte, nachdem er seinen Bruder nicht betrauert hatte. Sein eigen Fleisch und Blut, nicht adoptiert, nicht fremdgevögelt, seine eigene Brut hätte das alles werden können. Um die hat ihn Veronika gebracht. Und jetzt soll er ihr einen Sohn ranschaffen, der nicht seiner, sondern nur ihrer ist. Einen Stiefsohn für Hanns. Ein Mann, an dem nichts mehr zu ändern wäre. Ein fertiger Mensch, nicht |292| von ihm gezeugt, nicht von ihm ernährt, beschenkt, verwöhnt, verzogen. Irgendein Bastard, erfickt wahrscheinlich von einem Trainer, der die Pfoten nicht von seinen Schützlingen lassen konnte. So ein drahtiger, kleiner Turner, der Kinder vögelte, um Kinder zu machen. Dem mehrfach gelungen war, was er, Hanns, nie zustandegebracht hat. Sich zu vermehren und so in der Welt zu halten. Als ob das einen Sinn ergab.
Heute soll er, Hanns, der kinderlose Geselle, seiner Frau ein Kind beschaffen. Und er wird leer ausgehen. Wie immer. Ihm bleiben dann die Titten von Katja Schwenker und die klugen Sprüche von Bosse. Er kann sich begnügen mit gedrucktem Gelaber, das er jeden Tag ins Blatt bringt, um sein Geld nach Hause tragen und später versaufen zu können. Ihn wird keiner fragen, ob er nicht gern einen Daniel hätte.
Wie soll das überhaupt gehen, flüstert Hanns und hat noch immer den Motor nicht angelassen, um ins Krankenhaus zu fahren. Soll ich dann mit diesem kleinen Scheißer weiterhin einmal in
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