Lokale Erschuetterung
rastet aus. Er brüllt nach Irene Paulsen und fragt, ob sie diesen Nachruf angenommen hat. Hat sie. Setz dich hin und hör mir zu, schreit er. Und als Irene Paulsen sitzt, liest er zehn Mal hintereinander den Satz vor.
Mit Betroffenheit erinnern sich die langjährigen Weggefährten der ehemaligen Verwaltungsgemeinschaften Brockel und Cammin an die vielen Jahre des gemeinsamen Wirkens.
Irene Paulsen sitzt, schweigt und starrt Hanns an, ihren Chef, von dem sie schon nach so kurzer gemeinsamer Zeit |288| weiß, dass dem der Teufel im Leib sitzt. Sie hat Angst, und es fasziniert sie ein wenig, zuzusehen, wie aus Hanns Grabowski ein wütendes, pöbelndes Arschloch wird. Bisher hat er sich noch jedes Mal entschuldigt. Hinterher, wenn alles vorbei war. Es brauchte seine Zeit, bis Hanns Grabowski bereit war, sich zu entschuldigen. Und nie kam ihm eine Entschuldigung leicht über die Lippen. Aber Irene Paulsen befürchtet schon seit einiger Zeit, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch diese letzte dünne Schicht zivilisierten Verhaltens verschwindet und Hanns Grabowski so ist und sich so benimmt, wie er leibt und lebt. Noch nie hat sie mit einem derartig zornigen Menschen zusammengearbeitet. Ein wenig erinnert er sie an einen Onkel, den sie als Kind gefürchtet und als junges Mädchen gehasst hatte. Der Wortwitz und Verstand besaß, eine schöne Frau und zwei Söhne hatte und von früh bis spät Angst verbreitete. Am Ende hatte ihn sein Jähzorn ins Grab gebracht. Er war mitten im Wüten am Schlagfluss gestorben. Irene Paulsen erinnert sich noch gut an das erleichterte Gesicht ihrer Tante. Ein kleines Leuchten ging von ihr aus, als sie sich über den Onkel gebeugt und zwei Finger an die Halsschlagader gelegt hatte, um dann zu verkünden, dass hier jede Hilfe zu spät komme. Es klang wie eine sanft, aber bestimmt ausgesprochene Drohung, dass niemand im Raum auf die Idee kommen möge, allzu schnell den Krankenwagen zu rufen. Und so hatten sie alle am Tisch gesessen, der gedeckt war für die Familie, um den Geburtstag der Tante zu feiern, und gewartet. Bis es angebracht schien, ein Bestattungsinstitut zu rufen anstatt einen Arzt. Irene Paulsen war sich nie sicher, ob der Onkel tatsächlich schon tot war in jenem Augenblick, da die Tante zwei Finger an seinen Hals legte und sich ein Leuchten auf ihr Gesicht legte. Ob da nicht noch ein müder Puls geschlagen hatte. Niemals wurde in der Familie darüber |289| gesprochen, der Onkel war am Schlagfluss gestorben, und basta. Umfallen und tot sein, das sei doch die beste Art zu sterben, sagen noch heute alle aus der Familie, wenn die Rede auf den Onkel kommt. Die Tante hatte wieder geheiratet, um zehn Jahre darauf zum zweiten Mal Witwe zu werden und in ein Altenheim zu gehen. Manchmal besuchte Irene Paulsen die alte Frau. Und wartete darauf, dass sie erzählt, wie es wirklich war. Ob sie den Onkel hat sterben lassen, um sich und ihren Söhnen das Leben zu retten. Aber die Tante redet nicht. Sie verschwindet einfach, löst sich auf und vergisst die Dinge und Angelegenheiten ringsum. Auch den Onkel.
Im Vergleich zu dem war Hanns Grabowski sicher ein freundlicher und ausgeglichener Mensch. Bis auf Momente wie diese. Wo er ihr zehn Mal den gleichen Satz vorliest und denkt, sie sei zu blöd, den Schwachsinn zu erkennen, den die langjährigen Weggefährten von Karl Seeler da aufgeschrieben haben. Aber sie ist es leid, den Leuten zu sagen, sie sollten es besser lassen, irgendetwas aufzuschreiben. Niemand wollte so etwas hören, und kaum jemand, der diese Zeitung las, merkte, dass er um anständige Sätze betrogen wurde. Von der ersten bis zur letzten Seite. Obwohl Irene Paulsen zugeben musste, dass Hanns Grabowski sehr wohl anständige Sätze schreiben konnte. Aber die verschwanden zwischen all den Schrecklichkeiten und Unsinnigkeiten, die Tag für Tag in der Zeitung standen.
Sie schweigt und lässt ihn schreien. Als er fertig ist, liegt ein dünner Schweißfilm auf seiner Stirn, den er fahrig mit der rechten Hand abwischt, um dann einen angeekelten Blick auf diese Hand zu werfen und sie an der Hose abzuwischen.
Hanns, die wollen das so, sagt sie und steht wieder auf.
Daran ändern wir nichts. Ich hätte ihnen sagen können, dass dieser Nachruf schwachsinnig ist, aber sie |290| hätten mir nicht geglaubt. Sieh dir das Foto von Karl Seeler an. Der war ein versoffenes Miststück und hat immer in die eigene Tasche gewirtschaftet. Niemand mochte ihn, lässt man seinen Hund außen
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