Lokale Erschuetterung
Drei Vorstellungen hintereinander anschauen. Danach Wein trinken bis zum Umfallen. Sie kann unter Martin Wagemuts Decke kriechen. Aber das geht nicht. Er hat Nachtdienst. Eine Freundin anrufen könnte sie. Welche? Keine weiß, was mit ihr los ist. Sie hat sich schon vor Wochen zurückgezogen. Sich mit zu viel Arbeit und zu wenig Zeit rausgeredet, wenn Anfragen kamen. Inzwischen scheinen die Freundinnen das akzeptiert zu haben. Sabine Marschner vielleicht. Die könnte sie anrufen. Ein netter Abend mit einer netten Gynäkologin, die den Eindruck macht, als könnte sie eine richtige Freundin werden.
Veronika läuft durch die Wohnung. Wie eine Blöde laufe ich durch die Wohnung, denkt sie. Es hilft, vollständige Sätze zu denken, wenn man verrückt zu werden droht. Das hat sie frühzeitig gelernt.
Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt.
|304| Veronika dreht ihre Runden durch die Zimmer. Bleibt vor den Bücherregalen stehen, fährt mit dem Zeigefinger über Buchrücken und singt leise vor sich hin. Das mit den vollständigen Sätzen ist doch zu schwierig jetzt, wo sie eine ganze lange Nacht vor sich hat, bevor Hanns sein Telefon wieder anschaltet und sie ihn fragen kann, wie ihr Sohn reagiert hat auf die Eröffnung, dass man alles weiß. Dass er sich nicht mehr verstellen muss und sie gemeinsam überlegen können, was nun zu tun ist. Therapeutischer Beistand wäre nicht schlecht, denkt Veronika und malt sich mit staubigem Finger Kringel auf den Unterarm. Wann hat sie das letzte Mal auf den Bücherregalen Staub gewischt? Muss ewig her sein.
So legt euch denn, ihr Brüder, in Gottes Namen nieder, kalt ist der Abendhauch; verschon uns Gott mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.
Bis jetzt war es doch ein guter Tag, murmelt sie und lächelt das staubige Regal an. Ein sehr guter Tag. Ich habe dreihundert Euro verdient. Mit links habe ich das gemacht. Einszweiflink einen Text über die Arbeit von Outboundcallcentern nach der Novellierung des Gesetzes zum unlauteren Wettbewerb geschrieben. Achttausend Zeichen auf einer Arschbacke abgerissen. In nur fünf Stunden. Das ist ein guter Stundenlohn. Davon können die polnische Putzfrau und die deutsche Leiharbeiterin nur träumen. Sechzig Euro Stundenlohn. Brutto zwar, aber immerhin. Wer verdient das schon? Meine Gynäkologin vielleicht. Martin Wagemut bestimmt nicht. Hanns auf keinen Fall. Ich bin die mit den fetten Stundenlöhnen. Von denen kann ich mir einen Kerl kaufen, wenn ich will. Und einen Sohn, wenn ich möchte. Aber das brauche ich nicht. Ich habe ja einen Sohn. Einen hübschen klugen Kerl, der schon lange erwachsen ist und was aus sich gemacht hat. Muss ich mein Geld nicht mehr für hergeben. Für einen Sohn. Der ist mir |305| geradezu aus dem Schoß gefallen, und jetzt fällt er mir da wieder rein. So ist das.
Veronika nimmt die nächste Runde in Angriff. Fängt vorn an der Wohnungstür an und arbeitet sich erneut durch alle Zimmer. Bleibt vor ihrem Kleiderschrank stehen und vermutet, dass nun doch jemand hinter den Türen hockt, darauf wartet, dass die sich öffnen und er sie verschlingen kann. Mit Haut und Haar verschlingen. Dann hat sie überhaupt keine Not mehr.
Das Telefon klingelt. Veronika rennt. Sie schnappt den Hörer und lässt sich von Martin Wagemut fragen, wie es ihr geht.
Nichts, sagt sie, ich habe nichts gehört, und Hanns hat das Handy aus. Er will erst morgen fragen. Morgen. Weißt du, wie viel Zeit bis dahin noch zu überstehen ist?
Martin schweigt einen Moment. Soll ich versuchen, jetzt noch den Dienst zu tauschen? Soll ich zu dir kommen? Veronika?
Sie schüttelt den Kopf, sie sagt nein, sagt, ich werde kommen durch die Nacht. Durch die Nacht kommen, schiebt sie hinterher.
Was willst du machen?
Ich gehe ins Kino, und dann gehe ich noch mal ins Kino, und die Nachtvorstellung sehe ich mir auch noch an, und dann gehe ich nach Hause und lege mich ins Bett.
Wird das funktionieren?
Nein, sagt sie und lacht. Natürlich nicht.
Veronika, kannst du.
Martin Wagemut kommt nicht weiter mit diesem Satz, an dem er nun schon den halben Tag rumbastelt. Er kriegt ihn nicht über die Lippen. Wenn Veronika nein sagt oder gar nichts oder lacht oder auflegt. Besser, er weiß nicht, was sie ihm antwortete. Besser, er wartet auf andere Zeiten.
|306| Ich werde dich morgen anrufen. Versprochen. Veronika legt
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