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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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auf und setzt sich an ihren Schreibtisch. Vielleicht hat Hanns doch eine Mail geschrieben. Möglich, dass ihm der Gedanke gekommen ist, sie könnte hier durchdrehen, wenn er sie noch bis morgen hängenlässt. Es ist keine Mail von Hanns im Postfach. Aber eine von Sabine Marschner. Die bringt Veronika wieder auf den vorhin gedachten Gedanken. Soll sie diesen langen Abend, der kein Ende nehmen wird, mit ihrer Gynäkologin verbringen? Aber es klingt noch immer nicht nach einer Lösung. Sabine Marschner steht für den Anfang dieser ganzen Geschichte. Hätte sie nicht geredet, wäre dies kein schrecklicher Abend. Alles hätte verheimlicht und verschlossen bleiben können. Veronika denkt, ich müsste wütend sein auf die Gynäkologin. Aber das ist sie nicht. Trotzdem ist ein Abend mit Sabine Marschner unvorstellbar.
    Ich wollt ein Bäumlein steigen, das nicht zu steigen war. Da brachen alle Äste ab, da brachen alle Äste ab, und ich fiel in das Gras. Ach wenn das doch mein Schätzchen wüsst, dass ich gefallen wär, es tät so manchen weiten Schritt, bis dass es bei mir wär.
    Bedenkzeit. Wenn Hanns dem Jungen Bedenkzeit gegeben hat, heißt das, er zweifelt an dem, was sie zu wissen glauben. Veronika geht zum Kühlschrank und nimmt den Weißwein aus dem oberen Fach. Ein halbtrockener Weißwein. Wer immer ihr den geschenkt hatte, konnte nicht wissen, dass halbtrockene Weine im Regelfall weiterverschenkt werden. Sie hat keine Ahnung, warum diese Flasche bisher nicht diesen Weg gegangen ist. Wahrscheinlich, weil er zu der teureren Sorte gehört. Sie wird sich gedacht haben, dass ein teurer halbtrockener Weißwein trinkbarer sein könnte als ein billiger trockener. Veronika sucht den Flaschenöffner, der gestern noch da war und jetzt verschwunden ist. Sie findet nur den alten, den sie längst entsorgen |307| wollte, weil mit dem kein Korken zu ziehen ist. Diesmal aber gelingt es. Der Korken stöhnt sein Plopp, und Veronika nimmt einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Sie geht in das Zimmer von Hanns und nimmt den Wein mit. Eben ist ihr der Einfall gekommen, zu Hause zu bleiben und hier Filme zu gucken. Da kann sie sich nebenbei betrinken. Und wenn der Alkohol nicht reicht, geht sie in den Supermarkt und holt Nachschub. Sie könnte noch einmal nachfragen, wie Daniel nun wirklich mit Nachnamen heißt. Die Verkäuferin muss sich geirrt haben, sonst hätten sie den Jungen gefunden. Martin hätte ihn gefunden, er ist Polizist und verfügt über alle Möglichkeiten, jemanden aufzustöbern.
    Wahrscheinlich stimmt nur ein Buchstabe nicht, murmelt Veronika und trinkt noch einen Schluck aus der Flasche. Die wird nicht ausreichen, sie über den Abend zu bringen, ist jetzt schon halb leer. Veronika nimmt ihre Geldbörse und den Wohnungsschlüssel und macht sich auf den Weg, um Alkohol zu kaufen. Die Verkäuferin, die ihr den Namen von Daniel verraten hat, ist nirgendwo zu sehen. Es wäre sowieso egal, denkt Veronika. Daniel ist bei Hanns, und morgen wissen wir Bescheid. Vielleicht auch noch irgendwann in der Nacht. Hanns ist doch auch neugierig. Er will es wissen, genau wie ich.
    Veronika läuft durch den Supermarkt und redet vor sich hin. Wenn ihr jemand über den Weg läuft, vor sich hin plappernd und kaum etwas von dem wahrnehmend, was ringsum passiert, hält sie denjenigen für verrückt. Ein Stimmenhörer oder eine Stimmenhörerin. Die werden immer mehr, glaubt Veronika. Als pflanzten sie sich ständig fort. Natürlich muss man immer zuerst schauen, ob so jemand nicht mit einem Headset rumläuft und vielleicht nur telefoniert. Von zehn Verrückten sind acht bloß Telefonierer, Leute, die das Wasser nicht halten können und die Welt |308| an ihrem schäbigen Leben teilhaben lassen müssen. Aber zwei, das ist Veronikas Berechnung, zwei von zehn Menschen, die beim Laufen, Einkaufen, Warten reden, sind verrückt. Und sie könnte jetzt eine davon sein. Schließlich telefoniert sie nicht.
    Nein, ich telefoniere nicht, sagt Veronika und bleibt vor dem Weinregal stehen. Ich rede einfach nur mit mir selbst. Höre keine Stimmen. Immerhin.
    Eine Frau, die unschlüssig vor dem Regal steht und sich offensichtlich für keinen Rotwein entscheiden kann, lächelt Veronika müde zu. Es scheint sie nicht zu stören, dass die Frau neben ihr plappert, als erwarte sie, die guten Moselweine wüssten eine Antwort auf welche Frage auch immer. Gut möglich, dass hier zwei verrückte Weiber stehen und nicht wissen, womit sie sich am Abend betrinken

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