Lokale Erschuetterung
aber ich habe die Zeit gut in Erinnerung. Außerdem liegt mir die Recherche vor Ort, der Umgang mit den Menschen. Ich kann auf andere zugehen und merke immer, dass die schnell Vertrauen fassen, wenn ich mit ihnen rede. Ist ja nicht unwichtig in diesem Beruf.
Der Chefredakteur nickt und nickt und lächelt ununterbrochen. Richtig, sagt er, völlig richtig. Die Leute müssen einem vertrauen, als Lokalredakteur ist man ja heute wie damals eine Instanz. An einem Ort, wo jeder jeden kennt. Er macht eine kleine Pause, und Hanns merkt, wie es im Darm rumort. Genau dieser Satz ist die Katastrophe, |62| denkt er. An einem Ort, wo jeder jeden kennt. Ich werde dort verrückt, das weiß ich schon jetzt. Ich werde Amok laufen.
Hätten Sie denn vor, mit Ihrer Familie in die Kreisstadt zu ziehen? Hanns schüttelt den Kopf. Meine Frau bliebe erst einmal in Berlin, käme aber später sicher nach. Sobald sich alles eingespielt hat.
Na klar, sagt der Chefredakteur und müht sich plötzlich um jugendliche Ausstrahlung. Muss sich alles erst eingrooven. Das dauert eine Weile, kenn ich.
Der Darm wird laut. Eingrooven, denkt Hanns und verzieht keine Miene. Was für ein Arschloch. Eingrooven. Gleich wird mir schlecht.
Ich habe mir die Stadt schon mal angeschaut. Bin ein, zwei Stunden lang rumgelaufen.
Und wie haben Sie sich gefühlt?
Hanns überlegt und dehnt die Zeit. Das kann ich noch nicht sagen. Es war ein Montag, und es regnete. Wenige Leute auf der Straße. Ich bin in ein Café gegangen und habe da eine halbe Stunde gesessen. In so einer Stadt vergeht die Zeit anders. Wenn ich Aussicht auf den Job habe, fahre ich noch mal hin. Vielleicht scheint dann ja die Sonne.
Ich rede mich um Kopf und Kragen, denkt Hanns. Der will doch bestimmt keine Lyrik von mir hören. Aber der Chefredakteur schaut nur ernst und nickt und nickt.
Ja, das ist richtig, Herr Grabowski. So eine kleine Stadt läuft anders. Da ist man erst mal ein bisschen verloren. Die Zeit vergeht irgendwie nicht. Scheint einem jedenfalls so.
Hanns wundert sich und schaut sich den Typen nun erst genauer an. Mal abgesehen vom Eingrooven scheint der ja doch nicht so blöd zu sein. Hanns nimmt Mut und Unmut zusammen und sagt: Ich würde den Job gern machen. Falscher Konjunktiv, denkt er und räuspert sich. |63| Ich freute mich, wenn es klappt. Oder klappte, denkt er, aber das wäre ja wohl ein bisschen zu viel Konjunktiv auf einem Haufen.
Ich denke, Sie sind der Richtige, sagt der Chefredakteur und steht auf. Ich habe viel Gutes über Sie gehört und von Ihnen gelesen. Ich melde mich in den nächsten Tagen bei Ihnen, und dann könnten wir im Laufe der kommenden Woche einen Vertrag machen.
Hanns fühlt, wie sein Darm völlig verrückt spielt. Ich muss unbedingt aufs Klo, so schnell wie möglich. Er steht ebenfalls auf und schiebt dem Chefredakteur die Hand rüber. Danke, sagt er, ich warte dann.
Gehen Sie ruhig mal in unser Archiv und schauen Sie sich an, was da in Frankenburg in den letzten Monaten so los war.
Das werde ich, sagt Hanns und denkt nur an die Tür hinter seinem Rücken. Da muss er durch und raus, der Sekretärin tschüs sagen und auf den Flur und zwanzig Meter nach rechts, da ist ein Klo.
Er schafft es. Gerade so. Auf der Toilette bleibt er sitzen und schwitzt. Nicht durchgefallen, aber Durchfall, murmelt er und schwitzt noch mehr. Es gibt keinen Grund dafür, sich so zu fühlen. Scheint aber, als sei nun eine existentielle Entscheidung gefallen. Hanns zieht das Telefon aus der Jackettasche und wählt Veronikas Nummer. Ja, meldet die sich ganz zögerlich. Wer ist da?
Das siehst du doch an der Nummer, sagt Hanns irritiert. Ich bin’s.
Hanns?
Veronika klingt so erleichtert, dass ihm das spanisch vorkommt. Was ist los, fragt er und drückt die Spülung.
Wo bist du, Hanns, was ist das für ein Lärm?
Ich hab Durchfall. Sitze in der Redaktion auf dem Klo und komme hier nicht weg.
|64| Haben sie dich nicht genommen?
Doch, alles in Butter. Ich bin wohl angenommen, und alles wird sich eingrooven.
Veronika schweigt ein paar Sekunden.
Eingrooven? Hanns, soll ich dich irgendwo abholen, wollen wir uns treffen?
Er überlegt. Ich muss nach Hause, Vroni, Veronika. Erst mal ein bisschen hinlegen und dann vielleicht. Ich kaufe Wein, welchen willst du?
Ihm fällt ein, dass er möglicherweise mit Daniel verabredet ist. Aber dem kann er wohl auch noch absagen.
Weißwein, bring Weißwein mit. Und hol aus der Apotheke Lopedium akut. Sicherheitshalber, falls es mit
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