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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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Kopf streitig. Und Veronika durfte zuhören, bekam dieses Angebot der Kumpanei, das nur in steilen Hierarchien wirklich funktioniert. Sie wusste nie, ob ihr Körper nicht in anderen |149| Runden Gegenstand ähnlicher Witzeleien und Obszönitäten war.
    Aber wenn die Betriebsratsvorsitzende zu den Besprechungen eingeladen war und den Raum betrat, standen die Männer der Geschäftsführung auf und gaben ihr die Hand und boten ihr einen Stuhl an und gossen ihr Kaffee ein. Manchmal brachte jemand die Frau mit einem billigen kleinen Scherz zum Lächeln. Niemand nahm sie ernst, sie war keine ebenbürtige Gegnerin, sollte sich einfach nur stellvertretend für andere, die kein Interesse hatten, demütigen lassen. Das war alles.
    Veronika erinnert sich, dass die Frau dann eines Tages krank wurde. Sie wachte morgens auf und konnte nichts mehr sehen. So wurde es in der Firma erzählt. Wochenlang lag sie im Krankenhaus, wo man nichts fand. Am Ende einigten sich die Ärzte auf Stress und schickten die Frau zu einer Kur für Menschen mit psychosomatischen Beschwerden. Als sie wieder zurückkam in den Betrieb, besuchte Veronika die Frau in ihrem Büro, das sich im Souterrain der Geschäftsvilla befand. Sie sagte, es täte ihr leid, dass es so schlecht gelaufen sei, und fragte die Betriebsratsvorsitzende, ob es nicht besser sei, aufzuhören mit dem Job. Die Frau ging zu dem kleinen Spiegel, der in ihrem Büro über einem Waschbecken hing, nahm ein Wattepad aus einer kleinen Kosmetiktasche auf der Konsole, feuchtete es an und begann, sich die Augen abzuschminken. Als sei Veronika nicht im Raum, wischte sie vorsichtig den silbernen Lidschatten und die Wimperntusche ab, setzte ihre Brille auf, drehte sich zu Veronika um und lächelte. Sie nahm ihre Teetasse vom Tisch und kippte deren Inhalt Veronika auf die Brust. Die Geste, mit der sie die Tasse ganz sachte bewegte, dann wieder auf dem Tisch abstellte, war nicht einmal besonders unfreundlich. Die Frau wusste wohl ganz einfach, dass Veronika alle Witze über sie kannte, Teil der |150| ganzen großen Demütigung war und niemals eine Verbündete.
    Veronika dreht sich zu ihrem Vater um, der noch immer ganz ruhig steht und sie nicht stört bei ihren Gedanken. Gestützte Fluktuation, sagt sie, weißt du, wenn es nach mir geht, will ich das nicht noch einmal machen. Lieber Marketing für durchgeknallte Haustierbesitzer mit ausreichend Geld für Katzenbäume in Leopardenoptik.
    Sie laufen endlich weiter und bleiben sieben Minuten später vor einem Industriegebäude stehen, auf dem verwittert über dem Eingangstor noch VEB Sicherheitsschlösser zu lesen ist. Hier hast du doch in den Ferien gearbeitet, sagt Eckard Stinauer.
    Veronika bleibt wieder stehen. Sie glaubt, wenn sie jetzt mit ihrem Vater, bei dieser Erinnerungstour über alles Mögliche redet, wird er ihr nachher auch erzählen, was war. Im Moment ist sie sich sicher, dass er sie retten wird. Sie stellt sich vor, wie gut es sein könnte, von nun an immer darüber reden zu dürfen, wenn ihr danach ist.
    Die Frühschicht hier begann um sechs. Das war ziemlich hart. Bevor sich alle in der großen Werkhalle an ihre Maschinen verteilten, traf man sich im Keller.
    Mit der rechten Hand malt sie den Weg nach, den sie mit den anderen Frauen jeden Morgen gegangen ist. Dort, im Keller, waren Umkleideräume und Duschen. Wir mussten uns diese Haarnetze überstülpen, die nur alte Frauen tragen, und in Latzhosen steigen. Wir waren nur Frauen, kein Kerl dabei. Die Kerle standen eine Werkhalle weiter an den Drehbänken. Wir haben Sicherheitsschlüssel gestanzt. Manche Frauen kamen da morgens um halb sechs geschminkt und gestylt. Und dann schminkten sie sich in der Umkleidekabine ab, zogen sich um und stellten sich an die Maschine. Das kam mir seltsam vor. |151| Ich schminkte mich nicht. Stell dir mal vor, da hätte ich mich zu Hause um fünf Uhr vor den Spiegel stellen müssen.
    Eckard schaut Veronika an, und sie sieht, wie er sich bemüht, in ihr die siebzehnjährige Abiturientin zu erkennen. Du warst immer ganz schön stark geschminkt, sagt er. Hast stundenlang vor dem Spiegel gestanden, um diesen dramatischen Lidstrich hinzukriegen. Carola hat das gar nicht gefallen. Sie fand, dass es dich alt aussehen ließ.
    Carola, Mutter, Carola. Veronika macht eine Bewegung, als wollte sie dem Vater über die Wange streicheln wie einem Kind. Der steht ruhig vor ihr, zuckt nicht und wartet. Ich vermisse sie immer noch, sagt er. Du siehst ihr sehr ähnlich.

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