Lokale Erschuetterung
Dann dreht er sich um und geht wieder los. Fünf Minuten später sind sie da, stehen vor dem Block, in den Eckard Stinauer zog, nachdem seine Frau, Veronikas Mutter, verschwunden war. Ein bisschen aufgemotzter ist das Haus inzwischen. Mit moderner Heizung und sanierten Bädern. Aber es ist und bleibt eine DDR-Platte mit Walmdach.
Ich wohne gern hier, sagt er, als wüsste er um die biedere Schäbigkeit dieses Blocks und der ganzen kleinen Stadt ringsum.
Die Platte, in der ich wohne, ist sogar noch älter. Dreiundsechziger Jahrgang.
Na, da waren wir doch noch auf der Straße des Sieges. Dreiundsechzig, das ist bestimmt solides Bauwerk.
Veronika nickt. Jetzt, wo ihr Vater es sagt, erinnert sie sich, dass dem so ist. Die Platte, in der sie wohnt, ist grundsolide, mit großen Wohnungen und dicken Wänden, durch die man kaum etwas hört.
Ich habe die Nachbarin gebeten, uns ein Gulasch zu kochen. Eckard Stinauer sieht schon wieder verlegen aus. Mir geht das nicht gut von der Hand, meist brennt die |152| Chose an. Aber die Kartoffeln dazu und den Salat kriege ich hin.
Zwei Stunden später sitzen sie vor leergegessenen Tellern. Veronika steht auf und räumt das Geschirr weg. Vielleicht soll man dir mal so einen kleinen Geschirrspüler schenken.
Eckard Stinauer schüttelt den Kopf. Man muss Aufgaben haben, bei denen ein bisschen die Zeit vergeht. Das ist hier ehrliche Arbeit, in solch einer kleinen Stadt. Die Zeit rumzubringen, meine ich.
Veronika nimmt eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und öffnet sie. Es ist an der Zeit, ihrem Vater zu sagen, warum sie hergekommen ist. Dass sie etwas wissen will von ihm, was sie längst weiß. Dass er sie ehrlich machen soll. Sie trinkt ein halbes Glas Wein, bevor sie anfängt zu erzählen. Beginnt mit der Operation, der sie sich in knapp drei Wochen unterziehen wird, erklärt, warum sie sich so entschieden hat, streift kurz ihre und die Not von Hanns mit dem totgeborenen Kind. Dann kommt sie auf das Gespräch mit ihrer Gynäkologin. Erklärt, was die ihr erklärt hat. Merkt, dass es sie verlegen macht, ihrem Vater so detailliert zu beschreiben, wie ein Muttermund, ihr Muttermund, beschaffen ist und warum der schon vor der Totgeburt Aufschluss darüber gab, dass etwas gewesen sein muss. Als sie fertig ist mit ihrer Erzählung, hat sie drei Gläser Weißwein getrunken, und Eckard Stinauer hat sich nicht ein einziges Mal bewegt auf seinem Stuhl. Sitzt da, der Vater, als könne er all die Worte durch bloßes Stillsitzen ungeschehen machen. Bleibt so sitzen, da ist Veronika schon längst fertig, hat alle Worte so gesagt, wie sie es wollte. Sie fühlt sich ein wenig leer und auf einmal auch ganz mutlos. Warum sollte ihr Vater sie jetzt retten? Sie ist mit achtzehn fortgegangen und hat ihr eigenes Leben geführt.
|153| Eckard Stinauer steht auf und geht ins Wohnzimmer. Kommt nach zwei Minuten mit einem Fotoalbum zurück. Setzt sich an den Küchentisch und klappt das Album auf. Sucht ein bisschen und dreht es dann so, dass seine Tochter auf die Bilder schauen kann. Da sieht sie sich als Zwölfjährige, Dreizehnjährige, Vierzehnjährige. Und eine Seite weiter mit fünfzehn, sechzehn, siebzehn. Immer als Turnerin gekleidet. Mal allein, mal mit Trainer, mal mit anderen Mädchen im gleichen Alter und gleichen Dress.
Das war eine schreckliche Zeit, sagt sie und will das Album wieder zuklappen. Ich habe die Sportschule gehasst. Diesen Drill und das ganze Zeug. Ich war so dünn und sollte auf keinen Fall dicker werden. Und wachsen sollte ich auch nicht und keinen Freund haben und überhaupt nichts tun, was mir Freude macht.
Ihr Vater nickt und legt seine Hände auf ihre Hände. Wir haben einen großen Fehler gemacht, dich dahinzuschicken. Dieser Trainer hat dir ja damals eine erfolgreiche Zukunft vorausgesagt. Gold und Silber sollte es regnen. Du seist ein großes Talent, hat er gesagt. Vielleicht das größte überhaupt in deinem Jahrgang. Wir haben gewusst, was für eine Quälerei es für dich war. Aber wenn wir dich gefragt haben, ob du aufhören möchtest, hast du immer nein gesagt.
Veronika nickt und sieht mit einem Mal Erinnerung um Erinnerung ins Hirn schwappen. Sie klappt das Album zu und schaut ihren Vater an, der nun auch ein ganzes Glas Wein auf einmal trinkt.
Ich habe mir gewünscht, nie darüber sprechen zu müssen. Deine Amnesie kam uns da zugute. Zuerst dachten wir, sie sei nur vorübergehend, aber dann schien es doch, als sei alles komplett und unwiderrufbar
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