Lokale Erschuetterung
Veronikas Vater wird wütend, und nun dreht er sich doch um zu seiner Tochter, die am Küchentisch sitzt und Unsinn redet.
Findest du, ich sollte jetzt glauben, dass Carola deshalb verschwunden ist? Findest du das?
Veronika schüttelt den Kopf. Ich meine nur mich mit der Strafe. So etwas gibt es doch, dass man einen Fehler macht und nie wieder rauskommt aus der Geschichte.
Nein, das gibt es nicht. Verdammt noch mal, das gibt es nicht.
Weißt du denn, dass es ein Junge war?
Nein, ich habe so was gehört. Eine Schwester, die nicht wusste, dass ich hinter ihr stehe auf dem Krankenhausflur. Die hatte zu ihrer Kollegin gesagt, du bekämst bald Besuch von deinen Eltern. Sie sagte nicht Eltern sondern: |157| Nachher kommen die Großeltern von dem Jungen, der zur Adoption freigegeben wurde. So habe ich mir das zusammengereimt.
Und so scheint es auch seine Richtigkeit zu haben. Veronika denkt an die Briefe. An den letzten Brief: Auch wenn ich jünger bin. Sechzehn Jahre, um genau zu sein. Du willst mich loswerden. Zum zweiten Mal.
Da brauche ich mich gar nicht mehr mit Martin Wagemut zu treffen, wenn nun alles klar ist und offiziell werden kann. Wenn mir die Geschichte nun wieder gehört. Veronika fängt an zu weinen. Dass dies die Lösung ist. Sie schaut ihren Vater an, der nichts tut oder tun kann, sie zu trösten. Der einfach nur dasitzt und zusieht, wie sie weint, und nicht weiß, dass er nichts Neues erzählt hat. Vielleicht ist ihm selbst so. Vielleicht weinte er auch gern. Aber er ist ein Vater alter Schule. Man muss stark sein und immer eine Lösung haben als Vater alter Schule. Man kann nicht einfach mitweinen, wenn einem danach ist.
Er steht auf und sagt, ich bau dir ein Bett, Veronika. Das ist der Liebesbeweis, den er noch bringen kann heute Abend. Seiner Tochter ein Bett zu bauen. Die schönste Bettwäsche aus dem Schrank zu nehmen, die mit den großen lavendelfarbenen Blumen, die Carola gekauft und gehütet hatte wie einen Schatz. Nur zu schönen und besonderen Anlässen wurde diese fliederfarbene Bettwäsche aufgezogen, und so fühlt sie sich noch jetzt an. Als sei sie neu. Duftet nach längst vergangenen Zeiten. Vielleicht hat er die Bettwäsche auch nie wieder aus dem Schrank geholt, seit Carola verschwunden ist. Jetzt nimmt er sie und baut für Veronika ein Bett im Wohnzimmer. Stellt eine Kerze auf den Tisch daneben und ein Glas Wasser. Legt zwei weichgespülte Handtücher und einen Waschlappen auf die Decke, macht das Radio an und dreht es so leise, dass nur ein kleines tröstliches Hintergrundrauschen zu |158| vernehmen ist. Geht in die Küche und sagt, nun sei alles fertig und bereit für die Nacht. Gute Nacht, sagt er und verschwindet im Schlafzimmer. Kommt noch einmal zurück, um zu sagen, dass er froh ist darüber, dass man nun reden könne. Bleibt stehen. So lange, bis Veronika ihn anschaut.
Ich habe immer gedacht, du würdest dich erinnern, Veronika. Würdest dich erinnern und willst es nur nicht sagen. Weil es so einfacher für dich gewesen sein muss all die Jahre. Ohne Erinnerung.
Wie kommst du darauf?
Ich habe mit einer Ärztin gesprochen. Und dann noch mit einer anderen. Gelesen hab ich und einmal an einen Psychotherapeuten einen Brief geschrieben. Namen und Adresse hatte ich aus dem Telefonbuch. Hat seine Praxis in Berlin. Also weit genug weg. Und alle haben mir gesagt, dass es so lange nicht geht. Sich gar nicht zu erinnern. Dass die Erinnerung irgendwann wiedergekehrt sein muss bei dir.
Ist sie aber nicht. Was wissen die schon, die Ärzte. Veronika denkt an eine Freundin. Eine von denen, die sie nach und nach rausgeschwiegen hat aus ihrem Leben. Zwei Kinder, da wusste man doch immer schon vorher, worüber geredet wird, wenn man sich trifft. Aber eine Geschichte, die war ihr lange im Kopf geblieben. Wie die vierzehnjährige Tochter der Freundin sich in einer Lüge verstrickt hatte, aus der sie nicht mehr rauskam. Eine kleine Lüge nur, eine Unwichtigkeit, ein Nichts. Die Freundin hatte es aufgebauscht und ein Drama um diese kleine Lüge errichtet.
Warum sagt sie nicht die Wahrheit, es wäre so einfach, ich wäre ihr nicht einmal böse. Sie muss sich nur einen Ruck geben. Ich will nicht, dass meine Kinder lügen.
Veronika hatte geredet, wie man redet, wenn man eigentlich kein Verständnis aufbringen kann. Oder doch, aber für |159| die falsche Person. Lass sie lügen, deine Tochter, hatte sie gesagt. Es gibt keine Möglichkeit, da wieder rauszukommen. Man verliert das Gesicht. Gib
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