Lokale Erschuetterung
irgendwo in einem verschlossenen Raum abgelegt worden. Von dir. Als hättest |154| du beschlossen, es nie wieder hervorzuholen. Und uns war es recht so. Da mussten wir uns nur vor uns selbst schämen. Nicht vor dir. Uns kam ja auch entgegen, dass die Sportschule in einer anderen Stadt war. Hier hat niemand was gemerkt. Und dort haben alle dichtgehalten.
Veronika merkt, dass sie rasend wird. Sie möchte ihren Vater schütteln und schlagen. Der will einfach nicht zur Sache kommen. Er soll sagen, was war. Damit sie es auch endlich sagen kann. Sie steht auf und stellt sich hinter ihn. Schaut auf seinen Kopf und sieht, dass sein dunkles Haar eine kleine Tonsur am Hinterkopf zeichnet. Wird er also doch ein Glatzkopf, denkt sie, und dieser Gedanke lenkt sie etwas ab von ihrer Wut.
Du hast ein Kind bekommen in dieser Zeit, Veronika. Da warst du knapp sechzehn. Du bist mit fünfzehn schwanger geworden und hast es selbst viel zu spät gemerkt. Bei euch Mädels kam und ging die Regel doch sowieso nie im Takt. Es war ein Wunder, dass du deine überhaupt schon hattest. Die meisten Mädchen waren Kinder und blieben es ewig, was das anbelangt. Wer weiß, was die euch da gegeben haben. Jedenfalls warst du schon im sechsten Monat. Dazwischen hatten auch noch Ferien gelegen, und ich erinnere mich, dass du deine Rückkehr in die Schule verzögert hattest. Du wurdest krank im Anschluss an die Ferien. Und nicht mal Carola merkte, was der Grund für deine Krankheit war. Eine Schwangerschaft. Wir hielten bei euch hochtrainierten und gezüchteten Mädchen einfach alles für normal.
Mit fünfzehn ein Kind.
Veronika versucht, so entsetzt wie möglich zu klingen. Diese paar Minuten noch durchhalten, dann ist alles vorbei. Dann hat sie ihre Geschichte. Sie setzt sich wieder an den Küchentisch und blättert hektisch in dem Album. Tatsächlich gibt nichts, keine Seite Auskunft über das, |155| was ihr Vater erzählt. Auf allen Seiten ist sie klapperdürr, mit eckigen Schultern und kantigem Gesicht, staksigen Beinen und übergroß wirkenden Händen. Man sieht, dass da Muskeln unter der Haut sind und dass sie zäh gewesen sein muss. Ein zähes Luder, denkt Veronika. Wenn ich mit fünfzehn rumgemacht habe an der Sportschule, muss ich wohl ein Luder gewesen sein.
Wer war denn der Vater, fragt sie nun. Diese Frage muss sie stellen. Vollkommen logisch, dass sie die stellt. Wer war denn der Vater, so fragt man doch, wenn man sich an nichts erinnern kann.
Wir hatten nur Vermutungen. Glaubten, dass es einer der Trainer war. Aber du hast geschwiegen. Als klar war, wie es um dich stand, hast du zugemacht. Und alle Entscheidungen uns überlassen. Wolltest nicht mitreden, sondern das tun, was andere für dich entscheiden. Also haben wir entschieden. Dass du an einen anderen Ort kommst, das Kind zur Welt bringst und wir unterschreiben.
Was?
Dass es gleich zur Adoption freigegeben wird. Das Kind. Ohne dass du es siehst. Du solltest es zur Welt bringen und fortgeben. Und danach solltest du das Training wiederaufnehmen. Wobei die Trainer sagten, da müsse man erst mal abwarten, was nun mit deinem Körper geschehe. Ob der noch tauglich für die Turnerei sein würde nach einer Schwangerschaft und Entbindung.
War er tauglich?
Ja. Aber du bist nicht mehr lange an der Schule geblieben. Trotz Amnesie. Irgendetwas hat sich festgesetzt in deinem Kopf. Deine Leistungen wurden schlechter. Es dauerte nur wenige Monate, da warst du für die Leute an der Sportschule nicht mehr interessant. Wir holten dich nach Hause.
|156| War es ein Mädchen oder ein Junge?
Ein Junge wohl. Aber das weiß ich nicht genau. Wir hatten vereinbart, dass man uns gar nichts sagt. Um nicht. Es sollte keine Verbindung aufgebaut werden zwischen uns und dem Kind.
Euerm Enkelkind, meinst du?
Eckard Stinauer nickt, und das Unglück macht seine Augen trüb. Nichts war richtig von dem, was wir getan haben, Veronika. Und ich habe keine Entschuldigung. Natürlich warst du ein Kind, viel zu jung und naiv, um selbst eins zu haben. Aber wir hätten uns kümmern können. Ich weiß nicht.
Er steht auf und stellt sich ans Fenster. Schaut raus und nicht zu Veronika, die am Tisch sitzt und denkt, dass sich nun doch zumindest das eine und andere fügt. Dass es sich besser anfühlt, wenn es ausgesprochen ist, weil sie sich nichts mehr vormachen muss.
Meinst du, es ist eine Strafe? Dass ich keine Kinder habe, nur ein totes und eines, das ich nicht kenne?
Was soll das, sind wir hier in der Kirche?
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