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Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
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in einer Ewigkeit kann viel passieren. Er hatte Zeit zum Denken. Nachdenken ist das falsche Wort in diesem Fall. Denken ist richtig. Erst vor fünf Tagen, als ihm die Tornemann von oben mal wieder mit ihrem Gegreine über den Lärm, den er macht, gekommen war, hatte er überlegt, wann er eigentlich ein solcher Rüpel geworden ist. Dass er nicht mal mehr zu so einer Schnepfe sagen kann, tut mir leid, ich dreh die Musik leiser. Und warum Veronika es mit einem wie ihm aushält. Es schien ihm das Einfachste, alles auf die Zeitenwende zu schieben. Die hatte Kerle wie ihn entmannt. Zu Waschlappen waren sie geworden, ihrer Macht und Mächtigkeit beraubt. Ihre Möglichkeiten waren nicht so viel wert wie das Schwarze unterm Fingernagel. Niemand wollte noch etwas von ihnen wissen. Von ihm, Hanns Grabowski. Keinen Menschen interessierte mehr, was zwischen den Zeilen stand, also wollte auch keiner mehr lesen, was einer wie er, Hanns Grabowski, aufschrieb. Das beglückende Gefühl, es denen da oben auf ganz subtile Art und Weise ein bisschen gegeben zu haben, das Schulterklopfen der Eingeweihten, alles von einem Tag auf den anderen vorbei. Man konnte aufschreiben und sagen, was man wollte. Nichts schien verboten. Immerhin, er war noch Schlagzeilenkönig geworden. Aber plötzlich machte Lügen keinen Spaß mehr. Der Reiz war weg, wenn man nicht die große Lüge mit den kleinen Wahrheiten vermischen konnte. Den Ein-bisschen-Wahrheiten, wie er sie immer genannt hatte. Die zwischen den Zeilen standen und niemandem weh taten, aber einigen genügten, nicht zu verzweifeln.
    Hanns hatte sich, nachdem die Tornemann wieder einmal unverrichteter Dinge abgezogen war, daran erinnert, wie sie ihn beim Boulevard das erste Mal losgeschickt |179| hatten. Die Witwe Ulbricht sollte er interviewen. Egal, zu was. Ein Foto wollten sie haben und zwei, drei Sätze von ihr. Zur Stasi, zur Mondlandung, zum Runden Tisch, zu den Waffenschiebereien in der DDR. Egal, egal, Hauptsache, die Witwe Ulbricht kam ins Blatt, fidele Tante, die. Hatte den Zickenbart um so viele Jahre überlebt. Also war er hin und hatte geklingelt und kriegte keinen Fuß in die Tür. Gehen Sie, hatte die Alte gesagt und ihn stehenlassen. Und er hatte sich drei Sätze ausgedacht, aufgeschrieben und mit dem schlechten Foto, kaum zu erkennen, die Tante so zwischen Tür und Angel, ins Blatt gebracht. Keine Sau hatte danach gefragt, ob das nun stimme oder nicht. Vielleicht ist er da so geworden, wie er jetzt ist. Oder es hat sich nur materialisiert, was schon immer da war. Bei ihm. In ihm.
    Dieser Tag vergeht und vergeht nicht. Das machen die Sehnsucht nach Veronika und die Angst, dass sie vielleicht doch nicht kommt. Irene Paulsen müht sich, ihm alles recht zu machen. Aber sie entkommt seiner Ungeduld nicht, und irgendwann am Nachmittag schmeißt sie hin und brüllt zurück. Das ist so verblüffend, dass Hanns für einen Augenblick alles andere vergisst und sich nur noch auf die Paulsen konzentriert. Die bis jetzt klaglos alles ausgehalten hat, was er ihr einschenkte. Die funktionierte wie ein geöltes Maschinchen, verlässlich wie eine Schweizer Uhr. Hanns starrt seine Sekretärin an, die ja eigentlich die Frau für all das ist, was er nicht schafft. Wie sie an ihrem Schreibtisch steht mit rotem Gesicht und so laut brüllt, dass ein, zwei Speicheltropfen aus ihrem Mund den Weg bis zu ihm schaffen. Sie landen auf seiner rechten Wange, und da lässt er sie erst einmal, um die Paulsen nicht zu stoppen. In gewisser Weise ist die Wut anderer Menschen das beste Heilmittel für ihn. Aus seiner eigenen fetten blauen Wut, die immer da zu sein |180| scheint und ihn nicht einmal im Schlaf verlässt, wird ein vergissmeinnichtblaues Rauschen. Viel erträglicher als dieser ewige Kampf, nicht zu explodieren. Vor allem nicht zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort. Wenn die Paulsen wüsste, dass es ihn sanfter macht, sie ausrasten zu sehen, nähme sie die Gelegenheit sicher öfter wahr. Er ist im Vergleich zum alten Moltke ein schweres Los für die nicht mehr ganz junge Frau. Hat sie in den wenigen Wochen schon einige Male zum Heulen gebracht, nie aber zum Schreien.
    Jetzt steht sie vor ihm, eine schmale, fast dürre Else, und brüllt zurück. Blöde Schnepfe, denkt Hanns zuerst. Bügelbrett, Heugeige, Spinatwachtel, dürre Feige, Regenwurm auf Beinen. Die kann doch einen Bock zwischen die Hörner küssen, Hühnerlollo, Bohnenstange. Aber er spürt, wie es langsam hellblau hinter den Lidern wird,

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