Lokale Erschuetterung
gesehen, bei der Verhandlung gegen den Jungen, der die Frau totgefahren hat.
Hanns nickt und fragt sich, wohin der Themenwechsel führen soll.
Ist der Sohn einer Bekannten aus dem Nachbardorf. Der Biobauer holt eine Schachtel Zigaretten aus der Jacke und zündet sich eine an. Hält Hanns die Schachtel hin, und der schüttelt den Kopf.
Was halten Sie denn von dem Urteil, will der Bauer wissen.
Hanns überlegt. Wenn es der Sohn einer Bekannten ist, sollte er vielleicht vorsichtig sein. Ein bisschen. Andererseits.
Zehn Stunden theoretischer und zehn Stunden praktischer Verkehrsunterricht für eine tote Frau erscheinen mir ein bisschen wenig als Strafe, sagt er und schaut, wie der Biobauer reagiert. Der tut und sagt erst mal nichts.
Die Frau war vierzig und hatte zwei Kinder. Ich meine, ein Zwanzigjähriger sollte doch wissen, wie viel Kraft in so einem tiefergelegten hundertzwanzig-PS-starken Auto steckt, wenn er in die Kurve geht.
Hanns denkt an den Jungen, wie er dasaß und nichts |176| zu sagen wusste. Als der Richter ihn fragte, ob er sich entschuldigt habe bei den Angehörigen der Toten, hatte der Typ ausgesehen, als wäre ihm dieser Gedanke völlig neu. Dass man sich entschuldigen könne, wenn man jemanden totfährt. Oder es zumindest versucht.
Der Bauer raucht seine Zigarette und schweigt. Dann steht er auf und sagt: Wissen Sie was? Ich hätte dem Typen das rechte Bein amputiert. Das Gasbein. Ist zwar der Sohn einer Bekannten, aber das wär mir egal. Hab es ihr auch gesagt. Dein Sohn ist ein Mörder, hab ich gesagt. Der sollte dafür büßen, dass er jemanden umgebracht hat. Fahrlässig oder nicht. Nun ist es wohl nicht mehr meine Bekannte, denke ich.
Tut Ihnen die Frau nicht leid? Die Mutter, meine ich. Das ist doch das Ende von allem, wenn das eigene Kind jemanden auf dem Gewissen hat.
Der Biobauer guckt Hanns prüfend an. Und nickt. Da werden Sie wohl recht haben. Wenn mein Sohn so was getan hätte. Ich würde auf den Heuboden steigen und mich aufhängen. Können Sie Gift drauf nehmen. Mussten Sie denn drüber schreiben? Über den Jungen?
Hanns sagt ja, das werde er noch tun. Heute erst, weil es ein längerer Artikel sein soll.
Macht keinen Spaß, oder?
Nein, macht es nicht. Lieber schreibe ich über eine Wildente mit acht Küken, die sich auf den Kauflandparkplatz verirrt hat.
Der Bauer grinst.
Die haben im Revierkommissariat Frankenburg angerufen, und die sind dann zum Einsatz ausgerückt.
Tja, sagt der Bauer, das Volk hier mag die Natur nicht. Fühlt sich immer gestört davon. Wie viel Parkplätze hat die Ente denn blockiert, dass gleich die Polizei ausrücken musste?
|177| Keinen, nur die Einfahrt zum Parkplatz. Es gab einen Stau, und deshalb musste die Ente in Gewahrsam genommen werden.
Mit dieser Geschichte kann man sich voneinander verabschieden. Sie sind ein früher Vogel, sagt der Bauer noch und meint es anerkennend. Um halb acht war noch nie jemand von Ihrer Zunft hier.
Hanns nickt und sagt, ab neun ginge sowieso nichts mehr, da sei die Ruhe dann vorbei. Dann steigt er ins Auto und fährt ins nächste Kaff. Eines mit Bäcker und Lebensmittelladen.
Wenn Veronika bis Sonntagabend oder gar Montag früh bleiben kann, wird er sie am Sonntag mitnehmen zu einem Chorfest. Auch nichts, was er sich freiwillig in den Kalender schreiben würde, aber alle Chöre des Landkreises werden da sein. Die beste Gelegenheit, sich mit jedem Chorleiter bekanntzumachen und allen Chefs der Freiwilligen Feuerwehren dazu, mit denen die Party zusammen organisiert ist. Jeder Chorleiter und jeder Feuerwehrchef ist erfahrungsgemäß auch sonst eine wichtige Person. Arzt, Bürgermeister, Apotheker, Schuldirektor, Fleischermeister. Vor drei Wochen war er bei einer Diamantenen Hochzeit in Cammin, und da hatte der Männergesangsverein des Ortes ein Ständchen gebracht. Dirigiert vom Chefbesamer des Kreises. Heißen die so? Hanns hat es vergessen, aber der Job bleibt der gleiche, egal, wie es heißt. Hanns hatte es witzig gefunden, diesen Männergesangsverein zu sehen, der von einem Superbullen dirigiert wird, und das Weinlied, gefolgt von Im Wald und in der Schenke, singt. Er hatte an Veronikas Eigenart gedacht, in Stresssituationen traurige Volkslieder zu singen, als sei sie wahnsinnig geworden.
Vielleicht ist es ja nicht mehr so. Vielleicht hat sie ein Gleichgewicht gefunden und kommt als ganz und gar |178| andere Frau hierher. Die acht vergangenen Wochen dehnen sich in seiner Vorstellung zu einer Ewigkeit. Und
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