Lokale Erschuetterung
und bittet die Paulsen im Stillen, einfach weiterzumachen, bis die eigene Wut ganz verschwindet. Der aber sind nach zwei Minuten Kraft und Worte ausgegangen. Sie setzt sich erschöpft auf ihren Schreibtischstuhl und starrt ihren Chef an, vermutet wohl, dass der sie jetzt suspendiert oder sonst was tut, was er gar nicht kann und darf.
Hanns geht rüber zum Schreibtisch seiner Sekretärin, schaut auf sie hinab, auf ihren geraden Scheitel und die dünnen, kastanienbraun gefärbten Haare, die das schmale Gesicht der Frau mit einem exakt geschnittenen Bubikopf rahmen, legt ihr eine Hand auf die Schulter, dass sie zusammenzuckt und ganz klein wird, und sagt: Entschuldigung, Irene. Ich habe mich blöd benommen. Es liegt daran, dass heute meine Frau kommt. Zum ersten Mal, seit ich hier bin. Ich bin aufgeregt. Und wenn ich aufgeregt bin, lasse ich das an anderen aus.
Dann geht er zurück zu seinem Schreibtisch, nimmt den Telefonhörer in die Hand und wählt die Nummer |181| vom Ordnungsamt Frankenburg, um zu fragen, wie die Vorbereitungen für das Stadtfest in drei Wochen stehen. Er starrt auf die Ausgabe von heute und sieht, dass ihm tatsächlich die Überschrift Babybörse in Wahrenberg durchgerutscht ist. Da werden sich die Leute aber freuen, denkt er, und hinter den Augen färbt es sich langsam wieder dunkelblau. Dass sie in Wahrenberg Babys kaufen können. Welcher Blödmann hat denn diese Überschrift verbrochen?
|182| 15. Kapitel
Veronika steht auf dem Bahnsteig und überlegt, ob sie wirklich fahren soll. Ob es nicht besser ist, einfach umzukehren, nach Hause zu gehen und sich am Nachmittag mit Martin Wagemut zu treffen. Der weiß inzwischen mehr als Hanns darüber, was in den vergangenen Wochen alles passiert ist. Das ist ungerecht, aber Veronika glaubt, es hätte sich auch nicht verhindern lassen. Hanns ist ein anderer Stern, ein Paralleluniversum. Geworden. Martin Wagemut genauso fremd, aber nicht furchterregend und ein unbeschriebenes Blatt. Vor allem das macht ihn für Veronika so kostbar. Dass er für sie ein unbeschriebenes Blatt ist.
Nach dem Besuch bei ihrem Vater hatte sie sich gleich mit Wagemut getroffen. Sie hatten ihre Verabredung vorverlegt, sich in das Café im Park gesetzt, und Veronika hatte erzählt, was es zu erzählen gab. Die Vermutung, dass sich mit dieser Erzählung auch erklärt, woher die Briefe kommen, lag nahe. Auch Martin Wagemut, ein Skeptiker von Haus aus, wie er sagte, schien schnell überzeugt. Ihr Sohn also, hatte er gesagt und genickt. Das erklärte manches.
Alles.
Nein, alles nicht. Aber manches.
Er war aufgestanden, weil sein Telefon geklingelt hatte, und ein wenig zur Seite gegangen, um ungestört zu reden.
Veronika hatte auf seinen Rücken gestarrt.
|183|
Ich hört die Sichel rauschen, sie rauschte durch das Korn, ich hört mein Feinslieb klagen, sie hätt ihr Lieb verlorn, hast du dein Lieb verloren, so hab ich doch das mein, so wollen wir beide mitnander uns winden ein Kränzelein.
Martin Wagemut hatte telefoniert, und Veronika sah, wie er sich rückwärts näher an ihren Tisch schob.
In meines Vaters Garten, da stehn zwei Bäumelein, das eine, das trägt Muskaten, das and’re Braunnägelein. Muskaten, die sind süße, Braunnägelein sind schön; wir beide uns scheiden müssen, ja scheiden, das tut weh.
Veronika konnte sehen, wie der Polizist den Rücken durchdrückte und sich halb zu ihr umdrehte, als traute er seinen Ohren nicht. Dann war zum Glück die Kellnerin gekommen und hatte die Bestellung aufgenommen. Zwei Milchkaffee, zwei Wasser. Veronika war wieder bei sich.
Wollen Sie ihn suchen, hatte der Polizist gefragt, als sein Telefongespräch beendet war.
Zuerst muss ich Bettwäsche mit lilafarbenen Blumen kaufen. Veronika war sich verrückt vorgekommen. Mit dieser Geschichte im Kopf hier bei dem Polizisten zu sitzen und zu überlegen, ob sie ihr Kind sucht.
Es hat mich doch gefunden, da muss ich es nicht suchen. Ihn, hatte sie sich verbessert. Ihn nicht suchen. Er wird sich sehenlassen, meinen Sie nicht auch?
Martin Wagemut war sich nicht sicher. Alles deutet darauf hin, hatte er gesagt, aber warum stellt sich der Junge, der Mann, nicht einfach vor ihre Tür, klingelt und sagt, hier bin ich, dein Sohn, Veronika. Wie konntest du nur?
Wie konnte ich nur? Veronika hatte genickt und war in Tränen ausgebrochen. Die Bestellung kam zur gleichen Zeit. Martin Wagemut bezahlte, nahm Veronika an die Hand, stand mit ihr auf und fing an, neben ihr herzulaufen und zu
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