Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lokale Erschuetterung

Lokale Erschuetterung

Titel: Lokale Erschuetterung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Gerlof
Vom Netzwerk:
reden.
    |184| Hören Sie auf zu weinen, Sie haben keine Schuld, und niemand hat Schuld. Es ist ein Unglück. Nicht mehr und nicht weniger. Sie müssen sich überlegen, ob Sie Ihren Sohn suchen oder auf ihn warten wollen.
    Ich warte ja seit zwanzig Jahren. Und um das zu erklären, damit es nicht so stehen bleibt, so unverständlich und seltsam, hatte Veronika dem fremden Mann von der Totgeburt erzählt.
    Seitdem hatten sie sich getroffen. Hin und wieder. Manchmal. Zwei Mal abends, und beim zweiten Mal schien es, als bewegten sie sich auf ein ganz neues Unglück zu. Fast hätte sie ihn mit hochgenommen, den Polizisten. In die Wohnung. In ihr Bett. In ihr Leben.
    Veronika steht auf dem Bahnsteig und liest erleichtert, dass der Zug mit zwanzig Minuten Verspätung ankommen oder losfahren wird. Das muss sich noch zeigen. Ob er losfährt. Und ob sie dann drinsitzt. Sie geht die Treppen runter in die Bahnhofshalle und läuft dort hin und her. Sie trällert vor sich hin, als sei die Welt komplett in den Fugen.
    Und wenn ich auch mal wiederkomm, mein Schatz, was nützt es dich! Lieb hab ich dich von Herzen, aber heiraten tu ich dich nicht. Sind auch die Äpflein rosenrot, schwarze Kernlein sind darin, und so oft ein Knab geboren wird, hat er schon einen falschen Sinn.
    Veronika bleibt vor einem Klamottenladen stehen und starrt auf ein mit Strass besetztes ärmelloses Shirt. Schwarz, tief ausgeschnitten und glänzend wie ein ganz und gar falsches Versprechen. Warum nicht, denkt sie, geht in den Laden, kauft das Shirt und zieht es gleich an. Als sie rauskommt aus dem Geschäft, sieht sie aus wie eine verkleidete Provinztusse.
    Damit werde ich ihn doch bestimmt weich machen, denkt sie. Hanns wird es mir gleich auf dem Bahnhof besorgen |185| wollen, wenn er mich so sieht. Und wirklich kommt sie sich vor wie die Einladung zum Tanz. Zwanzig Jahre zu alt für das Teil, das sie sich da übergeholfen hat, aber irgendwie auch sexy. Veronika bleibt bei einem Stehcafé noch einmal vor den Spiegeln stehen, kramt in der Tasche, holt eine Haarspange raus, rafft die Haare zusammen und steckt sie im Nacken hoch. Wenn ich jetzt noch größere Titten hätte, wäre ich genau die Richtige für ihn. Ein gutes Model für die Zeitung Futtertrog, eine echt geile Schnepfe.
    Sie schaut auf die Uhr und sieht, dass von den zwanzig Minuten angekündigter Verspätung siebzehn vergangen sind. Keine Zeit mehr zum Überlegen. Veronika rennt durch die Bahnhofshalle und kommt gerade noch rechtzeitig auf dem Bahnsteig an. Als sie im Zug sitzt, auf einem Fensterplatz und in Fahrtrichtung, ist der ganze Spuk vorbei. Natürlich wird sie ein gutes Wochenende mit Hanns verbringen. Ihm alles erzählen. Das meiste. Mit ihm beraten, was zu tun ist. Ob das Kind, das ein gerade mal sechzehn Jahre jüngerer Mann ist als sie, gesucht werden soll oder nicht. Was es für ihr Leben bedeutet, ein erwachsenes Kind zu haben. Stiefkind, denkt Veronika. Für Hanns könnte es ja gerade Mal ein Stiefsohn sein. Aber wäre das nicht mehr als alles, was sie haben?
    Jetzt tut es ihr leid, Hanns in den vergangenen Wochen so ferngehalten zu haben. Nicht mal nach der Operation ließ sie ihn kommen. Sie wollte niemanden sehen und haben. Sabine war die Einzige, die da sein durfte. Hatte sie abgeholt aus der Klinik, die wie ein Sanatorium ist, mit hübschen Zimmern, entspannten Schwestern und netten Ärzten. War mit ihr nach Hause in ihre Wohnung gefahren und hatte gekocht für sie beide. Es wurde ein guter Abend mit ihrer Gynäkologin, die sie so ins Unglück gestürzt, gezwungen hatte, sich eine Geschichte abzuholen, um sie |186| offiziell werden zu lassen. Veronika hatte an diesem Abend zum zweiten Mal erzählt, was sie von ihrem Vater wusste. Sabine saß da und war außer sich. Mehr noch als Veronika. So eine Geschichte, sagte sie ein ums andere Mal. So eine Geschichte. Veronika, dass du noch ganz bist, dass du arbeitest, dein Geld verdienst, nicht verrückt geworden bist, Hanns hast, nicht verloren bist. Sie hörte gar nicht auf mit der Aufzählung aller vorstellbaren Katastrophen, von denen keine eingetreten war, in ihren Augen.
    Ich bin doch verrückt, Sabine, hatte Veronika gesagt und gelächelt. Wenn du wüsstest, wie verrückt ich bin. Und sie hatte den Zweifel in Sabines Augen gesehen. Natürlich. Die Frau war Ärztin. Sie würde wissen, dass es ganz so nicht gewesen sein kann. Dass sie Veronika nichts Neues erzählt hatte an diesem Nachmittag im Schönbrunn. Aber sie hatte das Spiel

Weitere Kostenlose Bücher