Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Nabokov
Vom Netzwerk:
und ließ den Wagen in der Allee, um unbemerkt an derLawn Street Nummer 342 vorbeizugehen. Vordem großen Blutvergießen hatte ich ein Anrecht auf etwas Erholung, auf einen kathartischen Würgekrampf seelischen Erbrechens. Die weißen Fensterläden der herrschaftlichen Trödelvilla waren geschlossen, und jemand hatte ein gefundenes schwarzsamtenes Haarband an das weiße Schild «Zu verkaufen» geknüpft, das sich von seinem Pfahl neben dem Bürgersteig herabneigte. Kein Hund bellte. Kein Gärtner telephonierte. Keine Miss Visavis saß auf der umrankten Veranda - wo, sehr zum Verdruß des einzelnen Fußgängers, zwei junge Personen mit Pferdeschwanz und den gleichen schwarzgepunkteten Kittelschürzen ihre momentane Beschäftigung unterbrachen, um zu ihm herüberzu-starren: Sie war zweifellos seit langem tot; die zwei da mochten ihre Zwillingsnichten aus Philadelphia sein.
    Sollte ich in mein altes Haus gehen? Wie in einer Turgenjew-Novelle drang ein Gießbach italienischer Musik aus einem offenen Fenster - dem des Wohnzimmers: Welch romantische Seele spielte dort Klavier, wo an jenem behexten Sonntag, als die Sonne zärtlich die nackten Beine meines Mädchens liebkoste, kein Klavier ge-plinkert und geplätschert hatte? Auf einmal bemerkte ich, daß vom Rasen her, den ich gemäht hatte, ein gold-häutiges, braunhaariges Nymphchen von neun oder zehn in weißen Shorts mich mit etwas Wildem in ihrem gebannten Blick aus großen, blauschwarzen Augen ansah. Ich sagte etwas Freundliches zu ihm, ganz harmlos, ein altmodisches europäisches Kompliment von der Art «Du hast aber hübsche Augen», aber es ergriff eilig die Flucht, und die Musik hörte jäh auf, und ein gewalttätig aussehender schwarzhaariger Mann mit schweißglänzendem Gesicht kam in den Garten heraus und starrte mich drohend an. Ich war drauf und dran, mich vorzustellen, als ich mir mit dem erschrockenen Gefühl der Peinlichkeit, das man aus Träumen kennt, meiner lehmverschmierten Hosen, meines dreckigen, zerrissenen Pullovers, meines borstigen Kinns und meiner blutunterlaufenen Landstreicheraugen bewußt wurde. Ohne ein Wort machte ich kehrt und stapfte den Weg zu meinem Auto zurück. Eine asternartige, anämische Blume wuchs aus einer Ritze im Bürgersteig, an die ich mich noch erinnerte. Still von den Toten auferstanden, wurde Miss Visavis von ihren Nichten auf die Terrasse herausgekarrt, als wäre es eine Bühne und ich der Hauptdarsteller. Ich beschwor sie innerlich, mich nicht zu rufen, und eilte zu meinem Wagen. Wie steil die kleine Straße doch war. Wie tief der Schatten der Allee. Ein roter Strafzettel steckte zwischen Wischer und Windschutzscheibe; ich riß ihn sorgfältig in zwei, vier, acht Stücke.
    Im Gefühl, nur meine Zeit zu vergeuden, fuhr ich energisch zu dem Hotel in der Stadt, wo ich vor mehr als fünf Jahren mit einem neuen Handkoffer angekommen war. Ich nahm ein Zimmer, traf telephonisch zwei  Verabredungen, rasierte mich, badete, zog einen schwarzen Anzug an und ging zur Bar hinunter, um etwas zu trinken. Nichts hatte sich verändert. Die Bar war in das gleiche düstere, unmögliche, granatrote Licht getaucht, das Vorjahren in Europa zu anrüchigen Lokalen gehört hatte, hier aber in einem Familienhotel für Atmosphäre sorgen sollte. Ich saß an demselben kleinen Tisch, wo ich zu Beginn meines Aufenthalts, gleich nachdem ich Charlottes Mieter geworden war, mit ihr zur Feier des Tages eine halbe Flasche Champagner leeren zu müssen geglaubt hatte, die ihr armes, übervolles Herz schicksalshaft für mich einnahm. Wie damals ordnete ein mondgesichtiger Kellner für eine Hochzeitsfeier mit stellarer Sorgfalt fünfzig Glas Sherry auf ein rundes Tablett. Diesmal Murphy-Fanta-sia. Es war acht Minuten vor drei. Als ich durch die Hotelhalle ging, mußte ich an einer Gruppe Damen vorbei, die sich nach einem gemeinsamen Lunch mit mille grâces voneinander verabschiedeten. Mit einem rauhen Schrei des Wiedererkennens stürzte sich eine von ihnen auf mich. Es war eine kurze, dicke Frau in Perlgrau mit einer langen, grauen, schlanken Feder am kleinen Hut. Mrs. Chatfield. Sie attackierte mich mit einem falschen Lächeln, brennend vor boshafter Neugier (hatte ich etwa Dolly angetan, was Frank Lasalle, ein fünfzigjähriger Mechaniker, 1948 der elfjährigen Sally Horner angetan hatte?). Sehr bald hatte ich diese gierige Schadenfreude unter Kontrolle, Sie hätte mich in Kalifornien geglaubt. Wie ging es... ? Mit ausgesuchtem Vergnügen teilte ich ihr

Weitere Kostenlose Bücher