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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Nabokov
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von einem Wahnsinnigen ihrer Kindheit beraubt wird, solange dies nicht bewiesen werden kann (und wenn es bewiesen werden kann, dann ist das Leben ein Witz), solange sehe ich kein anderes Mittel gegen mein Elend als die schwermütige und sehr punktuelle Linderung, ihm künstlerischen Ausdruck zu geben. Einen alten Dichter zu zitieren:
    Es zahlt der Mensch mit der Moral den Preis,
    Daß er soviel von Menschenschönheit weiß.

32
    Ich erinnere mich an einen Tag auf unserer ersten Reise - unserem ersten Kreis des Paradieses da ich, um meine Phantasmen in Ruhe zu genießen, zu leugnen beschloß, was doch nicht wegzuleugnen war, die Tatsache nämlich, daß ich für sie kein Geliebter war, kein strahlender Held, kein Kumpel, ja überhaupt kein menschliches Wesen, sondern nichts als zwei Augen und ein Fuß geschwellten Fleisches - um nur das Erwähnbare zu erwähnen. Ich erinnere mich an den Tag, da ich widerrief, was ich ihr am Vorabend aus kühler Berechnung versprochen hatte (was es auch war, wonach ihr komisches kleines Herz gerade begehrte - der Besuch einer Rollschuhbahn mit einer besonderen Plastikauflage oder eine Nachmittagsvorstellung im Kino, zu der sie allein gehen wollte) und vom Badezimmer aus durch die Zufallskombination zweier Spiegel und der halboffenen Tür ihr Gesicht erblickte, in dem ein Ausdruck lag... ich kann ihn nicht beschreiben... ein Ausdruck so vollkommener Hilflosigkeit, daß er fast schon in den Ausdruck friedlicher Geistesschwäche überging, weil dies nun ein Äußerstes an Ungerechtigkeit und Frustration war - und jedes Äußerste setzt etwas Dahinter-liegendes voraus, daher der neutrale Zug. Und wenn Sie bedenken, daß diese hochgezogenen Brauen und geöffneten Lippen einem Kind gehörten, so können Sie besser ermessen, welche Tiefen berechnender Fleischeslust, welch zwiefach gespiegelte Verzweiflung mich zurückhielten, zu ihren geliebten Füßen niederzufallen, mich in menschliche Tränen aufzulösen und meine Eifersucht jedem mir unbekannten Vergnügen zu opfern, das Lolita sich vom Umgang mit schmutzigen und gefährlichen Kindern in einer Außenwelt versprechen mochte, die für sie die wirkliche war.
    Und ich habe noch andere halb unterdrückte Erinnerungen, die sich jetzt zu gliedlosen Ungeheuern aus-wachsen und mich peinigen. Einmal, auf einer direkt in den Sonnenuntergang führenden Straße in Beardsley, wandte sie sich an die kleine Eva Rosen (ich ging mit den beiden Nymphchen in ein Konzert und stand im Gedränge an der Kasse so dicht hinter ihnen, daß ich sie fast anstieß) - wandte sich an Eva, und als Antwort auf irgend etwas, was diese gesagt hatte (daß sie lieber tot wäre, als Milton Pinsky - einen Schuljungen aus ihrem Bekanntenkreis - über Musik sprechen zu hören), machte meine Lolita sehr ruhig und ernst die Bemerkung:
    «Weißt du, was am Sterben so schrecklich ist? Daß man dabei ganz auf sich allein gestellt ist»; und während ich meine Wattebeine wie ein Automat vorwärtsbewegte, durchfuhr es mich, daß ich von dem, was im Kopf meiner Liebsten vor sich ging, nicht die geringste Ahnung hatte und daß es hinter den schrecklichen jugendlichen Klischees sehr wahrscheinlich einen Garten in ihr gab und ein Zwielicht und ein Palasttor - dämm-rige, anbetungswürdige Regionen, zu denen mir, in meinen besudelten Lumpen und mit meinen elenden Zuckungen, der Zugang klarsichtig und unwiderruflich verwehrt war; denn oft fiel mir auf, daß sich bei dem Leben, welches sie und ich in unserer isolierten, durch und durch bösen Welt führten, eine sonderbare Verlegenheit breitmachte, sooft ich versuchte, über etwas Abstraktes zu sprechen, das sie und ein älterer Freund, sie und ein naher Verwandter, sie und ein normaler Geliebter, ich und Annabel, Lolita und ein sublimer, gereinigter, analysierter, vergöttlichter Harold Haze besprochen haben könnten - Kunst, Dichtung, den getüpfelten Hopkins oder den glattgeschorenen Baudelaire, Gott oder Shakespeare, alles Echte. Nichts dergleichen! Sie kleidete ihre Verletzlichkeit in billige Unverschämtheit oder Langeweile, während ich bei meinen desperat abgehobenen Kommentaren in einen gekünstelten Ton verfiel, über den ich selber mit meinen letzten Zähnen knirschen mußte und der bei meinem Publikum solche Ausbrüche von Grobheit hervorrief, daß jede weitere Unterhaltung unmöglich wurde, o du mein armes, mißhandeltes Kind.
    Ich liebte dich. Ich war ein fünfbeiniges Ungeheuer, aber ich liebte dich. Ich war

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