Lolita (German)
gebracht wurde; die sich selber, um in seiner Nähe zu bleiben, für die Nacht ins Humbertsche Schlafzimmer zurückzogen und - wer kann's wissen - dieselbe vielleicht nicht so tugendhaft verbrachten, wie es der ernste Anlaß gebot.
Ich habe keinen Grund, in diesen ungewöhnlichen Memoiren lange bei den Formalitäten zu verweilen, die vor dem Begräbnis zu erledigen waren, noch bei dem Begräbnis selbst, das so still war wie seinerzeit die Hochzeit. Nur ein paar Begebenheiten, die sich während der vier oder fünf Tage nach Charlottes schlichtem Tod zutrugen, müssen vermerkt werden.
In der ersten Nacht meiner Witwerschaft war ich so betrunken, daß ich ebenso fest schlief wie das Kind, das in diesem Bett geschlafen hatte. Am nächsten Morgen machte ich mich eilig daran, die Papierfetzen in meiner Tasche zu untersuchen. Sie waren zu sehr durcheinander, um sich zu drei vollständigen Briefen ordnen zu lassen. Ich nahm an, daß «... Du tätest besser daran, ihn zu finden, weil ich keinen neuen kaufen ...» einem Brief an Lo entstammte; andere Bruchstücke schienen auf Charlottes Absicht hinzuweisen, mit Lo nach Parkington oder sogar nach Pisky zurückzuflüchten, auf daß der Geier nicht ihr teures Lamm packe. Andere Fetzen und Schnipsel (ich hätte mir nie so starke Krallen zugetraut) bezogen sich offenbar auf eine Anmeldung nicht im St. Algebra, sondern in einem anderen Internat, dessen Methoden als so streng, grau und griesgrämig galten (obschon es «Krockett unter Ulmen» bot), daß es ihm den Spitznamen «Besserungsanstalt für junge Damen» eingetragen hatte. Die dritte Epistel schließlich war offenbar an mich gerichtet, Ich entzifferte Stellen wie «... nach einem Jahr der Trennung könnten wir vielleicht.,.», «... o mein Liebster, o mein ,..», «... schlimmer, als wenn Du eine Frau ausgehalten hättest...», «... oder vielleicht sterbe ich ...». Im großen ganzen erbrachte das, was ich zusammenscharrte, wenig Aufschluß; die verschiedenen Fragmente der drei hastigen Sendschreiben waren unter meinen Fingern so durcheinandergeraten, wie ihre Elemente es im Kopf der armen Charlotte gewesen waren.
An diesem Tage hatte John einen Kunden zu besuchen und Jean ihre Hunde zu füttern, so daß ich vorübergehend die Gesellschaft meiner Freunde entbehren mußte. Die guten Leute fürchteten, ich könnte Selbstmord begehen, wenn ich allein gelassen würde; und da keine anderen Freunde verfügbar waren (Miss Visavis hatte sich krankheitshalber zu Bett gelegt, die McCoos waren in einer entfernten Gegend mit dem Bau ihres neuen Hauses beschäftigt und die Chatfields kürzlich eigener Familienschwierigkeiten wegen nach Maine zitiert worden), wurden Leslie und Louise beauftragt, mir unter dem Vorwand der Hilfeleistung beim Aussortieren und Verpacken einer Menge verwaister Gegenstände Gesellschaft zu leisten. In einem Augenblick großartiger Inspiration zeigte ich den gütigen und leichtgläubigen Farlows (wir warteten, daß Leslie zu seinem bezahlten Stelldichein mit Louise kam) ein kleines Amateurphoto von Charlotte, das ich unter ihren Sachen gefunden hatte. Sie stand auf einem Feldstein und lächelte durch ihr verwehtes Haar. Die Aufnahme war im April 1934 gemacht worden, in einem denkwürdigen Frühling, Auf einer Geschäftsreise in Amerika hatte ich mehrere Monate in Pisky zu tun gehabt. Wir hatten uns kennengelernt - und es hatte sich eine tollkühne Liebesbeziehung entsponnen. Ich war leider verheiratet, und sie war mit Haze verlobt, doch als ich nach Europa zurückgekehrt war, wechselten wir über einen inzwischen verstorbenen Freund Briefe. Jean flüsterte, sie habe so etwas läuten hören, betrachtete die Photographie und reichte sie, immer noch mit dem Blick darauf, an John weiter, und John nahm die Pfeife aus dem Mund, sah sich die reizende und leichtsinnige Charlotte Becker an und gab sie mir zurück, Dann gingen sie für ein paar Stunden weg. Die glückliche Louise schimpfte unten im Kellergeschoß unter gurgelndem Lachen mit ihrem Galan.
Kaum waren die Farlows fort, als ein Geistlicher mit blauschimmerndem Kinn mir einen Besuch machte -und ich suchte die Unterhaltung auf ein Minimum zu verkürzen, soweit es sich machen ließ, ohne seine Gefühle zu verletzen oder seinen Verdacht zu erregen. Ja, ich würde mein Leben ganz dem Wohlergehen des Kindes widmen. Hier sei übrigens ein kleines Kreuz, das Charlotte mir gegeben habe, als wir beide jung waren.
Ich hätte eine Cousine in New York, eine
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