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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Nabokov
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verschiedenfarbiger Tinte. Mrs. H. H.s Trajektorie war an mehreren Stellen mit einer Reihe kleiner konturierter Figuren markiert - winzigen, puppenhaften Sekretärinnen oder Mitgliedern des Frauenhilfscorps -,. wie sie zur Veranschaulichung von Statistiken benutzt werden. Sehr deutlich und beweiskräftig kam diese Bahn mit einer kühn geschwungenen Linie in Berührung, die zwei aufeinanderfolgende Kurven beschrieb - eine, die das Bealesche Auto gemacht hatte, um dem Troedel-Hund auszuweichen (Hund nicht eingezeichnet), und die zweite, eine Art übertriebener Fortsetzung der ersten, in der Absicht, die Tragödie abzuwenden. Ein sehr schwarzes Kreuz bezeichnete die Stelle, wo die akkurate kleine Silhouettenfigur schließlich auf dem Bürgersteig zur Ruhe gekommen war. Ich suchte nach einem ähnlichen Zeichen, das die Stelle auf dem Rasenhang markierte, wo der riesige Wachsvater meines Besuchers geruht hatte, aber da war nichts. Selbiger Herr jedoch hatte als Zeuge seinen Namen unter diejenigen Leslie Tomsons, Miss Visavis' und einiger anderer Leute auf das Dokument gesetzt.
    Frederick, dessen Stift mit der Präzision und Leichtigkeit eines Kolibris geschwind und zart von einem Punkt zum anderen huschte, wies seine absolute Unschuld und die Unbesonnenheit meiner Frau nach: Während er im Begriff stand, dem Hund auszuweichen, sei sie auf dem frischgesprengten Asphalt ausgeglitten und vornüber gefallen, und dabei hätte sie sich nicht nach vorn, sondern nach hinten fallen lassen müssen (Fred zeigte mit einem Ruck seiner gepolsterten Schultern, wie). Ich sagte, es sei bestimmt nicht seine Schuld, und die gerichtliche Untersuchung kam zum gleichen Schluß.
    Er blies heftig durch schwarze, geblähte Nüstern, schüttelte seinen Kopf und meine Hand; dann bot er mir mit der Miene vollendeter Lebensart und nobler Großzügigkeit an, die Rechnung des Bestattungsinstituts zu begleichen. Er erwartete, daß ich sein Angebot ablehne. Mit einem trunkenen Schluchzer der Dankbarkeit nahm ich es an. Darauf war er nicht gefaßt. Ungläubig wiederholte er langsam, was er gesagt hatte. Ich dankte ihm aufs neue, noch überschwenglicher als zuvor.
    Diese etwas gruselige Unterredung hatte zur Folge, daß meine Seele sich für einen Augenblick aus ihrer Benommenheit löste. Kein Wunder! Ich hatte den leibhaftigen Mittler des Schicksals gesehen. Ich hatte das fleischgewordene Schicksal und seine gepolsterte Schulter mit Händen berührt. Eine glänzend gelungene, monströse Mutation hatte plötzlich stattgefunden, und das hier war das Werkzeug gewesen. In dem verwickelt ineinandergreifenden Muster (eilende Hausfrau, schlüpfriger Fahrdamm, blödsinniger Hund, steiles Gefälle, großes Auto, Gorilla am Steuer) konnte ich undeutlich meinen eigenen niederträchtigen Beitrag erkennen. Wäre ich nicht solch ein Tor gewesen - oder solch ein intuitives Genie -, das Tagebuch aufzubewahren, so hätte keine Augenflüssigkeit rachsüchtigen Zorns und brennender Scham Charlotte bei ihrem Spurt zum Briefkasten die Sicht geraubt. Aber selbst wenn sie sie ihr geraubt hätten, so wäre vielleicht noch immer nichts geschehen, wenn das fehlerlose Schicksal, das synchronisierte Phantom, in seiner Retorte nicht Auto, Hund, Sonne, Schatten, Nässe, Schwäche, Stärke und Stein zusammengeschüttelt hätte. Adieu,
    Marlene! Des feisten Schicksals feierlicher Händedruck (stellvertretend von Beale verabfolgt, ehe er das Zimmer verließ) entriß mich meiner Erstarrung; und ich weinte. Meine Damen und Herren Geschworene - ich weinte.

24
    Die Ulmen und Pappeln kehrten einem plötzlichen Windüberfall ihre zerzausten Rücken, und eine schwarze Gewitterwolke hing drohend über Ramsdales weißem Kirchturm, als ich zum letzten Mal um mich blickte. Unbekannten Abenteuern entgegensehend, verließ ich das leichenblasse Haus, in dem ich erst zehn Wochen zuvor ein Zimmer gemietet hatte, Die Jalousien - billige, praktische Bambusjalousien - waren schon heruntergelassen. «Der Veranda und der Inneneinrichtungverleiht ihr höchsten Ansprüchen genügendes Material einen modernen, dramatischen Flair», hatte es im Katalog geheißen. Die himmlische Wohnung muß danach ziemlich kahl wirken. Ein Regentropfen fiel auf meine Fingerknöchel. Ich ging aus irgendeinem Grund ins Haus zurück, während John mein Gepäck im Auto verstaute, und dann geschah etwas Kurioses. Ich weiß nicht, ob ich in diesen unfrohen Aufzeichnungen die merkwürdig sinnverwirrende Wirkung genügend betont habe,

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