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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Nabokov
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abholen komme.
    Alles ging gut. Sie saß unten in der Halle, tief versunken in einem zu prall gepolsterten blutroten Clubsessel, tief versunken in eine schauderhafte Filmillustrierte.
    Ein Typ meines Alters in einer Tweedjacke (das Genre des Hotels hatte sich über Nacht in die verlogene Atmosphäre «britischer Landadel» verwandelt) starrte meine Lolita über seine erloschene Zigarre und seine schale Zeitung hinweg an. Sie trug ihre Berufskleidung, weiße Socken und weißbraune Lederhalbschuhe, und dazu jenes grellbunte Kleid mit dem viereckigen Ausschnitt; ein Schuß ermatteten Lampenlichts ließ den goldenen Flaum an ihren warmen braunen Gliedern schimmern. Da saß sie, die Beine unbekümmert hoch übereinandergeschlagen, und ihre blassen Augen flogen die Zeilen entlang und blinzelten dann und wann. Bills Frau hatte ihn von weitem angehimmelt, lange bevor sie sich kennenlernten: Heimlich bewunderte sie den berühmten jungen Schauspieler, der in Schwab's Drugstore Sundaes löffelte. Nichts hätte kindlicher sein können als ihre Stupsnase, die Sommersprossen oder der Purpurfleck an ihrem nackten Hals, wo sich kürzlich ein Märchenvampir geweidet hatte, oder die unbewußte Bewegung der Zunge, die eine kleine Rötung um ihre geschwollenen Lippen auskundschaftete; nichts hätte harmloser sein können als zu lesen, wie Jill, ein energisches Starlet, ihre Kleider selber nähte und sich für ernste Literatur interessierte; nichts hätte unschuldiger sein können als der Scheitel in diesem glänzenden braunen Haar mit dem seidigen Schimmer über der Schläfe; nichts hätte naiver sein können ... Aber welch würgender Neid hätte den lüsternen Kerl erst erfaßt, wer auch immer er war - übrigens erinnerte er mich ein wenig an meinen Schweizer Onkel Gustave, der ebenfalls ein großer Bewunderer des découvert war -, hätte er gewußt, daß jeder Nerv in mir noch geölt war und vibrierte vom Gefühl ihres Körpers - des Körpers eines unsterblichen Dämons, verkleidet als weibliches Kind.
    War das rosa Schwein Mr. Swoon ganz sicher, daß meine Frau nicht angerufen hatte? Er war es. Falls sie anrufen sollte, würde er ihr dann ausrichten, daß wir zu Tante Cläre vorausgefahren seien? Abergewißdoch. Ich bezahlte die Rechnung und störte Lo aus ihrem Sessel auf. Sie las bis zum Wagen. Sie las unentwegt weiter, während sie zu einem sogenannten Coffee Shop ein paar Block weiter südlich chauffiert wurde. Ja, sie aß ganz anständig. Sie legte zum Essen sogar ihre Illustrierte beiseite, aber ihre gewöhnliche Munterkeit war einer sonderbaren Stumpfheit gewichen. Ich wußte, Klein-Lo konnte sehr gemein sein, riß mich also zusammen, griente und erwartete das Unwetter. Ich war un-gebadet, unrasiert und hatte keinen Stuhlgang gehabt. Meine Nerven waren am Zerreißen. Ich mochte nicht, wie meine kleine Geliebte die Achseln zuckte und die Nasenflügel blähte, wenn ich beiläufigen small talk versuchte. Ob Phyllis eingeweiht war, ehe sie zu ihren Eltern nach Maine fuhr, fragte ich mit einem Lächeln. «Hör mal», sagte Lo und zog eine Weingrimasse, «das Thema ist durch. » Dann versuchte ich - ebenfalls erfolglos, wie sehr ich auch mit den Lippen schmatzte -, sie für den Straßenatlas zu interessieren. Unser Bestimmungsort war, wie ich dem geduldigen Leser ins Gedächtnis rufen möchte, dessen Sanftmut sich Lo zum Beispiel hätte nehmen sollen, die fröhliche Stadt Le-pingville, irgendwo in der Nähe eines hypothetischen
    Krankenhauses. Dies Ziel war völlig willkürlich gewählt (wie, ach, so viele künftige Ziele es sein sollten), und mir wankten die Knie bei dem Gedanken, wie ich das ganze Lügengebäude aufrechterhalten und welche weiteren glaubwürdigen Ziele ich erfinden könnte, wenn wir alle Kinos in Lepingville abgegrast hätten. Immer unbehaglicher fühlte sich Humbert. Es war etwas ganz Eigenes, dieses Gefühl: ein bedrückender, abscheulicher Bann, als säße ich neben dem kleinen Gespenst von jemandem, den ich gerade umgebracht hatte.
    Als sie wieder in den Wagen stieg, huschte ein Ausdruck von Schmerz über Los Gesicht. Bedeutungsvoller huschte er noch einmal, als sie sich neben mir niederließ. Kein Zweifel, dieses zweite Mal setzte sie ihn ganz speziell für mich auf. Dummerweise fragte ich sie, was los sei. «Nichts, du Vieh», gab sie zur Antwort. «Du was?» fragte ich. Sie schwieg. Ortsende Briceland. Lo, die Gesprächige, schwieg. Kalte Panikspinnen krochen meinen Rücken hinunter. Dies war eine Waise.

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