London Hades
tiefer und mit schnellem Schritt in das Gewirr der dunklen Gassen hinein. Frances ’ Beine f ü hlten sich an, als w ä ren sie halb so lang wie zuvor. Obwohl sie sich nur noch voranschleppte, verringerte Henri sein Tempo nicht. Er dr ä ngte vorw ä rts, als s äß e ihnen der Teufel im Nacken – und vielleicht war das l ä ngst so. Seine Nervosit ä t kribbelte auch in Frances. Sie lauschte in alle Richtungen auf verd ä chtige Ger ä usche, und beinahe h ä tte sie geschrien, als neben ihnen ein Brett umkippte und auf die Stra ß e polterte. Eine Katze fauchte.
Sie wollte nicht mehr weitergehen, ihre Beine zitterten, und sie bekam kaum noch Luft. Flach stie ß en ihre Rippen gegen die Enge ihrer Schn ü rbrust. » Wohin gehen wir? « , keuchte sie.
Endlich l ö ste Henri seine Lippen voneinander. » Ich sorge daf ü r, dass du von hier fortkommst. «
Er tat das? Es f ü hlte sich so an, als w ä re sie ganz allein daf ü r verantwortlich. » Wohin? « , wiederholte sie ver ä rgert.
» Zum Postenhaus. « Als er ihren fragenden Blick bemerkte, f ü gte er hinzu: » Nathan. Er ist Constable, er hat Dienst, und vielleicht ist er in der N ä he des Postenhauses. «
Das sagte nat ü rlich alles. Jedenfalls dachte er das wohl, denn mehr Informationen lie ß er ihr nicht zukommen.
» Wunderbar « , stie ß sie zwischen zusammengebissenen Z ä hnen hervor. Sie w ü rde ganz bestimmt gleich zusammenbrechen.
Doch da straffte sich Henri pl ö tzlich neben ihr. Eine seltsame Wandlung ging mit ihm vor, als sich vor ihnen ein aus Holz gezimmerter Unterstand, in dem ein Licht brannte, aus den Schatten zu sch ä len begann. Ihr Begleiter stemmte sich nun auf seinen Spazierstock, nicht mehr auf sie. Kraftvoll setzte er den Stock auf und hob den Kopf, als w ü rde sich all seine Hoffnung auf das H ä uschen vor ihnen fokussieren.
Ein Mann sa ß hinter einer d ü nnen Glasscheibe im Inneren des Postenhauses. Als er sie herannahen sah, sprang er auf und st ü rzte ins Freie.
Henri riss den Arm von Frances ’ Schultern.
» Henri? « , rief der Mann. » Ist etwas passiert? « Er war eine gro ß e, stattliche Erscheinung, dennoch glaubte Frances, seine Lippen vor Erschrecken zittern zu sehen.
Das war dann wohl Nathan. Sie erkannte seine Ehrfurcht gebietende Gestalt sofort wieder, als er vor ihnen anlangte. Sie musste den Kopf zur ü cklegen, um ihn ansehen zu k ö nnen. Wie schon am Morgen trug er seinen dunklen Great Coat und dazu einen ebensolchen Dreispitz ü ber seinen zu einem Zopf gebundenen, schwarzen Haaren. Der Mantel war an seiner linken Seite ein St ü ck zur ü ckgeschlagen und offenbarte einen Degen sowie eine Steinschlosspistole, wie Frances sie schon bei Soldaten gesehen hatte. Nicht nur das unterschied ihn von jedem anderen Wachmann, den sie kannte.
Sie hatte immer geglaubt, nur ä ltere M ä nner, die keiner anderen T ä tigkeit mehr nachgingen, w ü rden sich zur Wache berufen lassen. Sie verlangten wenig Lohn und drehten gen ü gsam ihre n ä chtlichen Runden, mit nichts anderem als einem langen Kn ü ppel und einer Laterne bewaffnet. Mehr wurde von ihnen nicht erwartet. Nathan war bestenfalls Anfang Drei ß ig und sah nicht so aus, als w ü rde er bei irgendetwas, das er tat, Gen ü gsamkeit an den Tag legen. Seine Augen filterten das Geschehene aus Henri heraus, w ä hrend sein Blick ihn abtastete.
» Wie man es nimmt. « Henri erwiderte den Blick seines Freundes nicht. Daran ä nderte sich auch nichts, als der Constable ihn bei den Schultern nahm und in das Postenhaus schob. Der Raum bot gerade genug Platz, um ein klappriges Tischchen und einen Stuhl mit abgebrochener R ü ckenlehne aufzunehmen, und auf eben diesen dr ü ckte ihn Nathan nun. In diesem Moment wirkte Henri wie eine willenlose Gliederpuppe, jegliche Spannung war aus ihm gewichen.
Nathan ging vor ihm in die Hocke. » Hat dich jemand verpr ü gelt? «
Das war offensichtlich, denn das Licht der Kerze, die in einer Laterne auf dem Tisch brannte, offenbarte deutlich noch die Blutspuren an Henris Kinn und seine geschwollene Lippe, und so antwortete der nicht. Es rutschte auf dem Stuhl zur ü ck.
Nathan seufzte und fingerte ein Tuch aus seiner Manteltasche. Schuldgef ü hle nagten an Frances, weil Henri ihr sein Taschentuch gegeben hatte und nun selbst keins mehr besa ß .
Unwillig nahm er das Tuch entgegen und wischte sich ü ber Lippe und Kinn. Seine Stimme klang seltsam belegt, als er sagte: » Die wollten mein Geld. Es ist nicht
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