London Killing - Harris, O: London Killing - Belsey Bottoms Out
keinem Winkel unserer Seele Lügen und Ausflüchte dulden …«
In der Pause stand Charlotte neben dem Wasserkocher, und Belsey ging zu ihr.
»Willkommen im Club«, sagte er.
»Danke«, sagte sie und fügte dann an: »Zehn Jahre. Ich kann mir nicht vorstellen, überhaupt irgendwas zehn Jahre lang nicht zu tun.«
»Sich das vorzustellen ist es auch nicht wert«, sagte Belsey. Beide lächelten. Sie schüttete sich Kaffeepulver in eine Plastiktasse. »Sie sind heute Abend hergekommen«, sagte Belsey. »Das Schwierigste haben Sie damit schon geschafft.«
»Wirklich?«
»Nein.«
»Ich heiße Charlotte.« Sie gaben sich die Hand. »Aber das habe ich ja vorhin schon gesagt.«
»Jack.«
Sie goss heißes Wasser auf das Kaffeepulver, nahm die Tasse und lehnte sich gegen die Tischkante. Belsey fragte sich, ob nicht sogar die fünf Stunden zu großzügig gerechnet waren. Sie blies behutsam in den Kaffeedampf und warf dabei immer wieder einen schnellen Blick in den Raum.
»Sind Sie von hier?«, fragte sie.
»Mehr oder weniger«, sagte Belsey.
»Sie Glücklicher.«
»Ein herrliches Viertel.«
»Es macht einem Mu t , wenn man hört, wie lange manche Leute sich schon im Griff haben«, sagte sie.
»Stimmt«, sagte Belsey und nippte an seinem Kaffee. »Wenn ich ehrlich sein soll … Ich hatte eigentlich gedacht, dass das hier die Anonymen Sexsüchtigen sind.«
»Im Ernst?«
»War bloß ein Witz.«
Sie lachte.
»Ist das kein gutes Gefühl, wenn man trocken ist?«
»Nein, es fühlt sich beschissen an. Und der Kaffee schmeckt auch nicht besser«, sagte er und kippte den Rest ins Spülbecken.
Während der zweiten Hälfte der Sitzung saß Charlotte ne ben ihm. Es wurde aus dem A . -A.-Buch vorgelesen, dann wieder diskutiert. Da konnte Belsey sich aber schon nicht mehr konzentrieren. Zum Abschluss stand der Immobilienmakler auf und erzählte der Gruppe von seinen Erlebnissen in Kinder heimen und dass er seinen Peinigern und Gott ihm verziehen habe.
»Wir halten uns für stark«, sagte der Mann. »Und dann, wenn wir feststellen, dass wir schwach sind, halten wir uns für Versager …«
Charlotte fing an zu weinen. Belsey legte ihr den Arm um die Schultern. Es wurde viel darüber geredet, dass man es langsam angehen und so oft wie möglich an den Sitzungen teilnehmen solle. Dann standen sie alle auf, nahmen sich an den Händen und sprachen ein Gebet. Belsey spürte die schmalen Knochen ihrer Hand zwischen seinen Fingern.
Hinterher nahmen ein paar Teilnehmer Charlotte in den Arm. Aufmunternde Spruchkarten und Broschüren wurden ausgetauscht. Die Frau des Immobilienmaklers bestand da rauf, dass Charlotte den Rest des Obstkuchens mitnahm. Sie sagte, Gott werde sich um sie kümmern. Als Belsey sich das nächste Mal umschaute, war Charlotte verschwunden.
Belsey half noch beim Aufräumen: den Wasserkocher ausleeren, die Stühle aufstapeln, die Kinderstühle wieder hinstellen. Er fragte sich, ob die Kinderkrippe wusste, wozu ihr Raum am Abend genutzt wurde. Er stellte sich vor, wie die aufgestapelten großen Stühle tagsüber in einer Ecke standen wie für eine Unterrichtsstunde, auf die sie nicht vorbereitet waren. Nach draußen ging er durch die Kirche. Dort hing ein Holzschnitt, an den er sich erinnerte. Er war nur ein einziges Mal hier gewesen – als man den Opferstock gestohlen hatte. Auf dem Holzschnitt stand der Vers eines Psalms mit einem Bild, das Jesus unter Schäfern zeigt. Die Worte standen über und unter dem Bild: Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er sah den trostlosen Wasserspeicher oberhalb der Walthamstow-Sümpfe vor sich, wo er einmal zu einem Team gehört hatte, das mit einem Schleppnetz nach einem vermissten Kleinkind gesucht hatte.
Als er die Kirche verließ, stand jemand allein unter einer Straßenlampe und wartete.
»Hi«, sagte sie.
»Charlotte.«
»Was für ein Haufen.«
»Jetzt wissen Sie, warum das anonym ist.«
Sie grinste. Sie zitterte unter ihrer Jacke und schaute sich um. Die Church Row war leer. Es hatte aufgehört zu regnen.
»Wollen Sie noch fahren?«, fragte er.
»Sollte ich eigentlich nicht.« Sie schaute auf ihre Autoschlüssel. »Das wollten Sie damit doch sagen, oder?«
»Nein.«
»Haben Sie nicht gesagt, dass Sie gleich um die Ecke woh nen?« Sie hatte große, strahlende Augen. Sie schaute die Straßenlampen an. Die Lichtkegel glitzerten auf den nassen Steinen.
»Ja. Ist nicht weit.« Belsey tätschelte den Porsche. »Das ist mein Wagen.
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