London Killing - Harris, O: London Killing - Belsey Bottoms Out
von der Kirche, aus den Fenstern der Krypta.
Er stand auf. Durch eines der Fenster blickte er in einen Raum, der tagsüber als Kinderkrippe genutzt wurde. Die kleinen Stühle für die Kinder standen aufgestapelt in einer Ecke, während in der Mitte des Raums zwanzig Erwachsenenstühle im Kreis aufgestellt waren. Sechzehn waren besetzt, von Männern und Frauen, die in Gedanken versunken unter den Neonröhren der Kinderkrippe saßen. Es waren mehr Frauen als Männer.
Belsey trat einen Schritt zurück. Er strich sich das Haar glatt und brachte seine Krawatte in Ordnung. Dann ging er die Steinstufen zur Krypta hinunter.
Eine kleine gewölbte Tür führte in die Krippe. An den Wänden hingen Kinderzeichnungen. Auf den Fensterbret tern standen Marmeladegläser voll Wasser, in denen schmutzige Pinsel steckten. Belsey ging zu einem Tisch, auf dem ein rostfreier Wasserkessel und ein Teller mit Keksen stand. Er machte sich einen starken Instantkaffee. Auch wenn er nach Teer schmeckte, er würde ihn wenigstens wieder auf Vorder mann bringen. Er setzte sich auf einen freien Stuhl und schaute geradeaus.
Die Sitzung begann.
»Guten Abend«, sagte der Sitzungsleiter. »Mein Name ist Aidan.«
Aidan begrüßte die vertrauten Gesichter mit einem »Hallo« und die neuen mit einem »Herzlich willkommen«. Er trug eine klobige Brille und hatte einen Packen Ratgeberbroschüren unter dem Arm. Ein stark zitternder Immobilienmakler wurde von seiner Frau vorgestellt. Sie begleite ihren Mann, um ihm zur Seite zu stehen. »Ich werde ihn nach Kräften unterstützen«, sagte sie. Sie hatte einen Obstkuchen mitgebracht und bot Belsey ein Stück davon an. Belsey nahm dankend an. Neben dem Immobilienmakler saß ein hagerer, vielleicht achtzehn- oder neunzehnjähriger Junge, der die blau-orangefarbene Uniform einer Supermarktkette trug. Neben ihm saß ein älterer Mann mit einem Tiger-Tattoo auf dem Arm, unter seinem Stuhl lag eine Bomberjacke. Fünf oder sechs Leute trafen noch ein, als es gerade losging: Hampstead-Alkoholiker – pensionierte Richter, ein alter Schauspieler, Frauen aus der konservativen Partei. Belsey versuchte, sie nicht zu genau unter die Lupe zu nehmen.
Noch später kam eine Frau, die sich auf den Stuhl gegenüber Belsey setzte. Sie war etwa in seinem Alter. Sie strich sich ihr goldbraunes Haar glatt und schlug die Beine übereinander. Sie trug einen winzigen Rock. Ihre Beine brauchten ewig lange, bevor sie in glatten schwarzen High Heels endeten. Sie sah aus, als hätte sie gerade erst geweint. Als sie den Blick hob und Belsey mit ihren grünen Augen anschaute, durchlief ihn ein Schauer. Sie sah aus wie eine Karrierefrau, wunderschön und peinlich berührt – als hätte sie ihr Alkoholproblem wie einen Fleck auf ihrer Bluse gerade erst bemerkt.
»Hi«, sagte sie leise. »Tut mir leid, ich bin ein bisschen spät dran.«
Die anderen Gesichter wandten sich ihr zu und schauten dann wieder weg, die Männer etwas schneller als die Frauen. Die Neue musterte mit schnellen, intelligenten Augen ihre Umgebung. Sie erwiderte Belseys Blick ein bisschen zu lange. Er ging in seinem Gedächtnis Kolleginnen, Anwältinnen und Zeuginnen sowie weibliche Opfer und Verdächtige der letzten Zeit durch. Er hatte sie nie zuvor gesehen.
Als sie an die Reihe kam, nannte sie ihren Namen, Charlotte, und sagte, dass sie jetzt seit zweiundzwanzig Stunden trocken sei. Eigentlich erst seit fünf, fügte sie dann hinzu. Ihre zuvor selbstbewusste Stimme stockte. Sie sei rückfällig geworden, sagte sie, aber diesmal sei sie entschlossen durchzuhalten. Sie wüsste, dass sie das allein nicht schaffen würde. Sie sei zweiunddreißig Jahre alt und Modeeinkäuferin in einem bekannten Kaufhaus in der High Street. Alle klatschten. Belsey musterte ihre Augen und suchte nach Anhalts punkten. Dezentes Make-up, schlichte Silberhalskette. Er freut stellte er fest, dass sie keinen Ehering trug. Allerdings hatte ein Ehering noch nie irgendetwas verhindert, manchmal machte er die Sache sogar einfacher.
Als Belsey dran war, stellte er sich als Jack vor und sagte, er habe seit zehn Jahren nichts mehr getrunken. Er sei gekommen, weil sich ein Freund umgebracht habe. Während der ersten Hälfte der Sitzung schaute er ein paarmal auf und be merkte jedes Mal, dass die Frau ihn anschaute. Sie wandte sofort den Blick ab.
»Was sind die Voraussetzungen für eine moralische Bestandsaufnahme?«, fragte der Gruppenleiter. »Erstens, dass wir aufrichtig sind, dass wir in
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