London Killing - Harris, O: London Killing - Belsey Bottoms Out
selbst hatte das auch schon durchgemacht und doch nie ganz verstanden. Geliebte Menschen mussten die Leiche sehen, mussten den Tatort sehen, mussten dem Mörder ihres Kindes in die Augen schauen. Als ob sie so die Vergangenheit begraben könnten.
Schnitt auf ein blondes Mädchen in Jessicas Alter. Es stand im Studio hinter einer Batterie von Mikrofonen. »Aufruf einer Freundin des Opfers.« Sie weinte gut. Sie sagte: Irgendwer muss doch etwas wissen … Man sah ihre teure Kleidung, als sie vor dem Starbucks Blumen niederlegte. Die Kamera fing die Inschrift auf dem Blumengebinde ein: Ruhe in Frieden, Jess, dir wird Gerechtigkeit widerfahren.
Belsey bestellte einen Kaffee und eine Portion Fritten, bezahlte und ging mit dem Wechselgeld zu dem Münztelefon in der Ecke. Er rief Channel Five an. Miranda Miller war außer Haus, aber ihre Mitarbeiter waren da, und die kannten ihn.
»Wer ist das blonde Mädchen?«, fragte Belsey.
»Eine Freundin.«
»Wann ist sie aufgetaucht?«
»Am frühen Nachmittag.«
»Hat sich ja ziemlich Zeit gelassen.«
»Der Schock.«
»Ja, sicher.«
Er rief in der Einsatzzentrale an. Sie sagten: »Sie heißt Lucy. War schon zweimal hier. Konnte uns aber nicht wirklich weiterhelfen.«
»Seid ihr sicher?«
»Die Frage lautet wohl eher, ob sie sich sicher ist.«
Das CID-Büro war leer, als er ins Revier Hampstead zurückkehrte. Er steckte fünfhundert Pfund in Devereux’ Brieftasche, zog die unterste Schublade seines Schreibtischs heraus und verstaute darunter den Rest des Geldes. Dann schob er die Schublade wieder hinein, verließ das Büro und ging die Pond Street hinunter.
South End Green war in Flutlicht getaucht. Fremdartige Schatten lagen auf der stillen Kreuzung. Einige Pubs und Restaurants, die etwas weiter vom Tatort entfernt waren, hatten geöffnet, waren aber nur schwach besucht. Viele Lokale hatten geschlossen, aus Respekt oder aus Resigna tion. Der lange Schatten des gotischen Trinkbrunnens zeig te wie der Zeiger einer Monduhr auf das White Horse Pub. Das künstliche Licht hob jede reflektierende Fläche hervor: Radkappen, Glassplitter, gefrorene Pfützen. Ein Lie ferwagen mit der Aufschrift Verglasungen – schnell und sau ber wartete geduldig darauf, das Grauen überdecken zu dürfen.
Belsey duckte sich unter dem Absperrband hindurch und zeigte seinen Ausweis.
»Wer hat hier das Kommando?«
»Ich«, sagte ein drahtiger, grauhaariger Detective Sergeant. »Und wer sind Sie?«
»Nick Belsey. Northwood schickt mich. Er hat in ein paar Stunden eine Besprechung mit dem Chief Constable und will das Schlimmste schon mal vorab wissen.«
»Dave Carter«, sage der Sergeant und musterte ihn vorsichtig. Belsey hatte Ballistiker schon immer gemocht. Ruhige, präzise arbeitende Männer. Die Männer der Schusswinkel und Projektilgeschwindigkeiten. »Wir sieht’s bei euch aus?«, fragte Carter.
»Chaos.« Belsey betrat das Zelt. Carter folgte ihm. Das Licht unter der Leinwand des Zeltes war diffus. Man fühlte sich wie an einem heiligen Ort. An der Stelle, wo eine Kugel in den Boden eingedrungen war, steckte ein Fähnchen. Um der Kontaminierung des Tatorts vorzubeugen, werden die Körperumrisse heute nicht mehr nachgezeichnet. Aber alles wurde so belassen, wie es vorgefunden wurde. Man spürte, dass man sich an einem Ort befand, wo ein Mensch sein Leben gelassen hatte.
»Wie sieht’s aus?«, fragte Belsey.
» Acht Geschosse. Die ersten beiden Kugeln haben das Fenster zertrümmert. Eine ist in die Rückwand eingeschlagen, über dem Serviettenständer, eine in die Wand hinter der Kaffeemaschine. Wir glauben, dass die vierte den Chinesen getroffen hat, die dritte und später dann noch zwei haben das Mädchen erwischt. Zwei stecken im Boden.«
»Alle aus derselben Waffe?«
»Ja. Mit einem langen Lauf, nicht verchromt.«
»Ein Scharfschützengewehr?«
»Möglich. Vielleicht eine modifizierte Armeewaffe. Gasdrucklader. Mit Geradezugverschluss, erhöht die Genau-igkeit. Die Patronen sind Kaliber 7,62 x 54 mm. Wie in Scharfschützengewehren der Armee. Nur die hier sind Hohlspitzgeschosse. Wahrscheinlich aus einer Waffe der ehemaligen Roten Armee abgefeuert: Dragunow oder VSK.«
Belsey ging in die Hocke und schaute sich das Einschussloch im Boden an.
»Wie viele Patronen fassen die?«
»Die Dragunow hat ein Trapezmagazin mit zehn Patronen. Die VSK fasst zwanzig Patronen. Die VSK ist aber mit einem Schalldämpfer ausgerüstet.«
»Dann war es keine VSK?«
»Wahrscheinlich
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