London NW: Roman (German Edition)
Grün dabei und rosa Flecken. Als Großstadtgewächs hatte sie nie die richtigen Bezeichnungen für die Natur parat. Sie streckte die Hand aus, um ein blütenschweres Zweiglein abzubrechen – es war als schlichte, sorglose Geste gedacht –, doch das Zweiglein war innen faserig und grün und nicht spröde genug, um sich abbrechen zu lassen. Nachdem sie einmal angefangen hatte, wollte sie nicht einfach aufgeben (die Straße war keineswegs unbelebt, man beobachtete sie). Sie legte ihre Aktentasche auf eine fremde Gartenmauer und nahm mit beiden Händen den Kampf auf. Was sie schließlich in der Hand hielt, war weniger Zweiglein als ein Ast, an dem noch weitere Zweige hingen, ebenfalls schwer von Blüten, und die Vandalin Natalie Blake floh damit um die nächste Ecke. Sie war auf dem Weg zur U-Bahn. Was sollte sie mit einem Ast anfangen?
137. Gedankenbahn
Der Drehbuchautor Dennis Potter hatte ein Fernsehinterview gegeben. Irgendwann Anfang der Neunziger. Er wurde gefragt, wie es sich anfühle, nur noch wenige Wochen zu leben zu haben. Natalie Blake erinnerte sich an seine Antwort: »Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Blüten. Und sie kommen mir so blütig vor wie nie.« Sobald sie wieder Netz hatte, würde sie das genaue Jahr nachschlagen und ob das Zitat auch wirklich so lautete. Aber vielleicht war das eigentlich Entscheidende ja auch, wie sie sich daran erinnerte. Der Ast lag verlassen vor einer Telefonzelle an der Kilburn Station. Auf ihrem Platz in der Tube bewegte Natalie Blake ihr Becken ganz leicht vor und zurück. Für Natalie Blake waren Blüten schon immer hochgradig blütig gewesen. Schönheit erweckte ein besonderes Bewusstsein in ihr. »Der Unterschied zwischen Moment und Augenblick.« Sie wusste nicht viel mehr über die philosophische Bedeutung dieses Unterschieds, als dass ihre gute Freundin Leah Hanwell einmal versucht hatte, ihn zu begreifen, und auch Natalie Blake dazu bringen wollte, ihn zu begreifen, vor langer Zeit, als sie beide noch studierten und um so vieles klüger waren als heute. Und für einen kurzen Zeitraum im Jahr 1995, ungefähr eine Woche lang vielleicht, hatte sie geglaubt, sie hätte ihn begriffen.
138. http://www.google.com/search?client=safari&rls=en&q=kierkegaard&ie=UTF-8&oe=UTF-8
Ein solcher Augenblick ist von einer eigenen Natur. Wohl ist er kurz und zeitlich begrenzt, wie ein Augenblick das ist, vorübergehend wie ein Augenblick, im nächsten Augenblick vorübergegangen wie ein Augenblick, und doch ist er das Entscheidende, und doch ist er erfüllt vom Ewigen. Ein solcher Augenblick muss doch einen besonderen Namen haben. Nennen wir ihn Fülle der Zeit.
139. Doppeltes Denken
Commercial Barrister Natalie Blake übernahm Pro-Bono-Mandate für Todeskandidaten auf den karibischen Inseln ihrer Vorfahren und beauftragte einen Finanzbuchhalter, zehn Prozent ihres Einkommens abzuzweigen und zwischen karitativen Zwecken und dem Unterhalt für ihre Familie aufzuteilen. Sie hatte den Verdacht, dass die Überreste ihres Glaubens sie so unzufrieden damit machten und sie vermuten ließen, all diese guten Taten seien eigentlich nur ein weiterer versteckter Beleg ihrer Eigennützigkeit, nur eine Art, ihr Gewissen zu beruhigen. Die Wurzel dieses Verdachts zu erkennen, half nicht, ihn zu beseitigen. Und bei ihrem Mann Frank De Angelis fand sie diesbezüglich auch keine Unterstützung, denn er unterstellte ihrem Vorgehen ganz andere Beweggründe: Sentimentalität und Rührseligkeit.
140. Schauspiel
Das Ehepaar Blake-De Angelis brach früh zur Arbeit auf und kam in der Regel spät zurück und behandelte einander in den Lücken dazwischen mit übertriebener Zärtlichkeit, als könnte schon der leiseste Druck das Ganze zerfallen lassen. Manchmal überschnitt sich ihr Arbeitsweg morgens für eine kurze Strecke, bis Natalie an der Finchley Road umsteigen musste. Häufiger aber ging Natalie eine halbe bis ganze Stunde früher aus dem Haus als ihr Mann. Sie traf sich gerne schon früh mit Melanie, der Anwärterin im Ausbildungsjahr, mit der sie sich das Büro teilte, um bezüglich der Tagesgeschäfte einen Vorsprung zu haben. Abends sah das Paar fern oder plante im Internet den nächsten Urlaub, was in sich schon als Beleg für Bösgläubigkeit gelten kann, denn Natalie hasste Urlaube, sie arbeitete lieber. Richtig zusammen waren sie eigentlich nur am Wochenende, vor ihren Freunden, für die sie sich frisch und lebenslustig gaben – sie waren schließlich erst dreißig – und immer noch
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